„Es geht um die Leiterin der Abteilung PW, Proliferation und Waffenhandel, im BND. Sie heißt Nelly van Eid. Klingelt es da bei dir?“
Nelly van Eid, die sechsjährige Tochter der Sergejewa Eiderowa. Sie waren Aussiedlerinnen, die anlässlich des Staatbesuches von Leonid Breschnew bei Helmut Schmidt im November1981 in den Westen ausreisen durften. 1982 traf Sergejewa mit ihrer sechsjährigen Tochter Nelly in Freiburg ein. Feldkamp besorgte ihr einen Job bei Didi Maier, dem Erdbeerplantagenbesitzer. Da waren Zach und Pergola schon zusammen. Hätte er doch damals die erheblich ältere Sergejewa genommen, dann hätte er jetzt eine Tochter beim BND und keinen aufsässigen Sohn in Spielcasinos. Doch dann wäre die Sergejewa heute sechsundsechzig und er achtundvierzig. Das wäre auch nicht gut gegangen.
„Du hast sie ja nicht alle!“, schnaubt Feldkamp empört und eilt nach draußen. Er ist kein Freund von frischer Luft, doch jetzt ...
Draußen ist es erheblich kühler als drinnen. Er saugt gierig die frische Luft in die Lungen. Ohne Unterlass werden Schwerverletzte aus dem Berg geholt. Innerhalb weniger Tage hat sich eine kleine Zeltstadt entwickelt, in der operiert, betreut, gestorben und überlebt wird. Was ist hier geschehen, fragt er sich. Was meinte Thor mit westlichen Medien? So ein Berg explodiert doch nicht von alleine. Seine professionelle Neugier und das Leid, vor dem er sich nicht verschließen kann, treiben ihn zum Ort des Unglücks. Es sind vorwiegend Männer, die anderen Männern helfen.
Sanitäter tragen Verletzte auf Bahren und eilen im Laufschritt oder schlängeln sich mit ihrer Last zwischen gestikulierenden Soldaten hindurch zu Zelten, vor denen sie die Verletzten mitunter einfach aus der Bahre kippen. Hier stapeln sich schreiende Schwerverletzte. Hin und wieder kommt ein Arzt und markiert sie mit einem wasserfesten Edding auf der Stirn. Die mit den roten Kreuzen auf der Stirn werden später hinter einen Sandhügel gebracht. Das sind offenbar diejenigen, denen man nicht mehr helfen kann.
„Triage“, denkt Feldkamp. Man kümmert sich um die, die eine Überlebenschance haben, die andern lässt man sterben. Hin und wieder meint Feldkamp hinter dem Hügel ein Flupp Flupp zu hören. Aber vielleicht täuscht er sich ja.
Er kann es nicht lassen und bindet einem Schwerverletzten den Oberarm ab, weil er sonst verbluten würde. Jemand brüllt ihn an, den er nicht verstehen kann.
„Ich bin Chirurg“, ruft Feldkamp und deutet auf seine Brust. „German Surgeon. May I help you?“
Irgendjemand spricht Deutsch und schiebt ihn in eines der Zelte. Hier stinkt es nach fauligem Fleisch und geronnenem Blut. Amputierte Gliedmaßen ragen aus Eimern heraus und ziehen Fliegen an. Von Sterilität keine Spur. Not ist hier ein Euphemismus. Er kennt die Bilder, er kennt die Gerüche. Jemand wirft ihm Gummihandschuhe zu, die in Deutschland seit zwanzig Jahren nicht mehr verwendet werden, oder die nach hier verkauft wurden.
Ehe er sich’s versieht, steht er an einem der provisorischen Operationstische und assistiert einem Kollegen bei der Teilentfernung eines Dickdarmes. Feldkamp ist Neurochirurg. Bauchchirurgie ist wie Starkstromtechnik im Vergleich zur filigranen Schwachstromtechnik der Neurochirurgie. Doch Feldkamp erinnert sich wieder an seine Ausbildung. Im Nu skelettiert er die Gefäße des Mesenteriums, sodass der Kollege dieses gefahrenlos durchtrennen kann. Plötzlich ragt ihnen etwas Spitzes entgegen. Dem Mann ist ein schrapnellähnlicher Gegenstand in den Bauch gedrungen.
Später operiert Feldkamp eine Halsschlagader und einen offenen Knochenbruch. Er bemerkt nicht, dass es Nacht und wieder Morgen geworden ist. Er hat vierzehn Stunden lang operiert, ohne das Vergehen der Zeit zu bemerken. Man muss ihn vom OP-Tisch wegziehen, weil Zach es befohlen hat.
Wie kann ich mich jetzt noch um deutsche Luxuspatienten kümmern, wo sich hier das Leid bergeweise stapelt?, denkt Feldkamp.
Man schleppt ihn in Zachs Hütte, wo ein riesiges Festmahl aufgetischt wurde.
Nelly van Eid schiebt sich vor den Schrecken, den er hier sieht. Mit einem Mal fühlt er das Alter. Damals war sie eine sechsjährige Göre mit einem russischen Akzent, hart wie Zwieback. Jetzt ist sie Abteilungsleiterin beim BND! Unfassbar! Er lacht still vor sich hin und schüttelt unbewusst den Kopf. Er wäre ihr gerne begegnet, doch nicht unter diesen Umständen. Er fühlt, wie die Erinnerung an Nellys Mutter ihn im Nacken bis ins Halsmark kribbelt. Schade, es hätte anders kommen sollen.
Feldkamp ist aufgrund der chaotischen Umstände gezwungen, in Zachs Holzhütte zu Abend zu essen. Beinahe schämt er sich vor den Beobachtern, die ihn nicht aus den Augen lassen. Sie gehören sicher zu Zachs Leibwächtern. Die drei Türsteherfiguren stehen stumm an die Holzwände gelehnt, die Hände, wie in der Kirche, vor ihrem Geschlecht gefaltet.
Als Vorspeise gibt es mehrere Variationen des Sabzi Khordan und Shahat, das sind riesige Platten mit verschiedenen grünen Kräutern. In mehreren Tontöpfen liegen Käsebarren aus Ziegenkäse, Panir sowie das typische Fladenbrot Nane lavash, in das die Kräuter mit einer rahmigen Soße eingerollt werden. Ferner süß und sauer zubereitete Hühnchen, Rindfleisch in allen Variationen, Gemüse, Fisch, Kaviar, Muscheln und perlendes Rosenwasser gegen den Durst.
Es ist ein Essen, das für eine Armee reichen würde. Feldkamp bietet den Bodyguards an, mitzuessen, doch diese lehnen mit einem kurzen Kopfschütteln ab. Zach beobachtet ihn mit steifem Hals durch die offene Türe.
„Es ist gut, dass du einmal den Mund halten musst, Wolfgang“, sagt Feldkamp kauend. „Das Essen ist erste Klasse, wirklich! Du hast schon immer Stil gehabt. Davon schwärmt Pergola seit dreißig Jahren. Was sie damit sagen will, ist, mit dir verglichen zu werden, ist, wie übers Wasser laufen zu müssen. Das war immer schon so. Damals, als du in Diskos ein Mädchen nach dem anderen abgeschleppt hast, war ich dein Resteverwerter.
Und im Ersten Golfkrieg, am vierten April in As-Shoibiyah bei Basra, weißt du noch? Thor mit seinen Norwegern und ich haben, wie an jedem gottverdammten Tag, Leichen in deine Kühlcontainer packen müssen, aber du hast einen Peilsender am einzigen russischen Militärflugplatz angebracht. Um 10 Uhr 43, ich weiß es noch genau, kam das iranische Geschwader und hat vierzig MiG-21 am Boden zerstört. Während wir Saddam Husseins Leichen eingesackt haben, hast du für den Iran spioniert. Ohne jenen Luftangriff gäbe es heute kein Ajatollah-Regime, weil die Iraker den Krieg gewonnen hätten.“
„Tammuz!“, krächzt Zach.
„Ja richtig, ich vergaß! Den israelischen Luftangriff auf Tammuz – 1981 – hatten sie auch deinem Peilsender zu verdanken. Du hast die Israelis zu Husseins Kernkraftwerk geleitet und es von ihnen zerstören lassen. Ohne dich wäre der Irak heute Atommacht und den Iran gäbe es nicht mehr. Irgendwie hast du die Welt verändert. Das war nicht unbedeutend für deine zwanzig Jahre.“
„Deswegen bin ich auch ein Sardar, ein Held, und du nicht!“, grinst Zach. „Es ist ein Treppenwitz, dass mein sechster Halswirbel ausgerechnet von den Israelis gebrochen wurde. Die haben mit einem modifizierten Stuxnet unsere Zentrifugen zum Explodieren gebracht!“
„Hm“, macht Feldkamp. „In deinem Job gibt es eben keine dauerhaften Freundschaften.“
„Du, Harry, bist ein Freund. Und als Freund bitte ich dich noch einmal um deine Hilfe. Das gesamte verdammte Risiko tragen wir. Du musst nur mit einer BND-Agentin schlafen.“
Feldkamp lacht vor sich hin und fühlt sich als Zu-kurz-Gekommener. Verglichen mit Zachs aufregendem Leben ist sein wohlanständiges nicht mehr als ein verklemmter Pups.
„Ich bin nicht dein Freund! Ich habe niemanden getötet oder ins Unglück gestürzt und ich kann auch nicht auf Befehl eine Frau aufreißen. Wir leben in verschiedenen Wertewelten“, ruft er Zach zu. „Verschone mich mit deinen kriminellen Machenschaften. Ja, du bist der große Krieger, du hast sogar Victor Bout den Amerikanern ans Messer geliefert. Du bist hier ein Sardar. Von mir aus. Aber lass mich außen vor. Behalt dein Blutgeld, ich will es nicht.“
Feldkamp