Ich brauchte einige Minuten, um mich aus meiner Schockstarre zu lösen und hinüber in mein Büro zurückzukehren. Was war hier bloß passiert? Warum war er gefeuert worden? Unmöglich konnte ich damit irgendetwas zu tun haben ...
Wie ich erst später erfuhr, hatte meine Kollegin Sandra Herrn Konrad wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt. Er hatte sich ihr auf der letzten Betriebsfeier in der Tiefgarage völlig betrunken unsittlich genähert und sie war ihm im letzten Moment gerade noch entkommen, indem sie ihm einen kräftigen Tritt in sein bestes Stück verpasst hatte. Die Chef-Etage hatte aus diesem Umstand wohl oder übel ihre Konsequenzen ziehen müssen und ihn entlassen.
Auch wenn Sandra mir sehr leid tat und dies sicher eine sehr unangenehme Erfahrung gewesen war, wurde mir deutlich, wie froh ich war, dass es passiert war und wir ihn dadurch endlich losgeworden waren.
Dennoch hatten seine letzten Worte an mich ihre Wirkung nicht verfehlt. Am Abend nach dem Vorfall stand ich in meinem kleinen Badezimmer und begutachtete mich kritisch im Spiegel. Ein Hingucker war ich sicherlich nicht, obwohl man mich auch nicht als hässlich bezeichnen konnte.
Meine langen braunen Haare waren immer ein wenig störrisch und ich brauchte oft Ewigkeiten, um sie einigermaßen in Form zu bringen. Aus praktischen Gründen trug ich sie daher meist zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Meine haselnussfarbenen Augen, die ich von meiner Mutter geerbt hatte, waren groß und ausdrucksvoll. Lediglich meine Nase war etwas groß geraten, ansonsten war ich mit meinem Gesicht im Großen und Ganzen eigentlich recht zufrieden. Ich war mit 1,69m durchschnittlich groß und hatte relativ gute Proportionen.
Aber auch jetzt, als ich hier so stand, wurde mir bewusst, dass mein verhasster Ex-Chef vielleicht sogar ein wenig Recht hatte. Meine Kleidung war irgendwie nicht das, was andere 29jährige so trugen. Meine Blusen waren alle hochgeknöpft und meine Röcke ... wenn ich denn überhaupt welche trug ... reichten bis weit über das Knie. Mein Dekolleté hatte im letzten Jahr höchstens einmal Tageslicht gesehen und zwar auf der Hochzeit einer Schulfreundin. Ich hatte leider kein Kleid gefunden, was höher geschlossen war und musste daher meinen - wie ich fand viel zu großen - Busen mehr zur Schau stellen, als mir lieb war. Ich weiß noch ganz genau, wie unwohl ich mich an diesem Abend gefühlt hatte.
Man konnte mich wohl tatsächlich etwas bieder nennen.
Der Satz von Herrn Konrad, dass eine wie ich eh keinen mehr abkriegen würde, brannte mir im Kopf. Hatte er auch da Recht? War ich so eine graue Maus, dass mich keiner anguckte, geschweige denn ein Gespräch mit mir führen wollte und ich würde irgendwann als alte Jungfer enden?
In diesem Moment ärgerte ich mich wieder über mich, über mein fehlendes Selbstbewusstsein und meine mangelnde Fähigkeit, mich anderen Menschen, insbesondere Männern, offener zu geben. Ständig hatte ich Angst, blöde Sachen zu sagen oder irgendwie unangenehm aufzufallen, so dass ich es beim Ausgehen mit meinen Freundinnen lieber ihnen überließ, die Männer einzufangen.
Ich war einfach nicht dafür geschaffen, mich in den Vordergrund zu drängen und mir war klar, dass ich daher meist gar nicht wahrgenommen wurde. Ich hielt mich vielmehr so dezent im Hintergrund, dass ich mit meiner ohnehin schon unauffälligen Kleidung und zurückhaltenden Art fast unsichtbar wurde.
Traurig ließ ich den Kopf hängen ... ich würde nächstes Jahr 30 Jahre alt werden und hatte außer zwei kurzfristiger unbedeutender Beziehungen noch nichts vorzuweisen.
Anne, meine seit Grundschultagen beste Freundin, hatte zu dieser Zeit schon ihre vermutlich zehnte Beziehung. Sie war das komplette Gegenteil von mir. Wunderhübsch, mit langen glänzenden blonden Haaren, strahlendblauen Augen und einer atemberaubend weiblichen Figur ... sie war schlicht der wandelnde Männertraum.
Klar, ich hatte auch eine weibliche Figur, aber ich empfand meinen Busen einfach zu groß, während ich fand, dass ihrer einfach wunderbar zu dem Rest ihres Körpers passte. So trug ich also lieber weite Oberteile, um meine Brüste zu verstecken, während Anne's Blusen und Tops nicht enger und figurbetonter ausfallen konnten.
Aber Anne war bereits seit Grundschultagen meine beste Freundin und wir waren gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen, so dass ich keinerlei Neid oder Eifersucht empfand.
Als Anne und ich uns am Samstag nach dem Rausschmiss von Herrn Konrad zum Frühstück in der Stadt trafen und ich ihr von seinen verletzenden Worten mir gegenüber berichtete, runzelte sie die Stirn und fragte: "Sag mal, Merle, findest Du Dich eigentlich wirklich so wenig attraktiv, dass diese Worte von so einem unterbelichteten Vollidioten Dich so hart treffen?"
"Na ja", murmelte ich und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, "ich bin nicht so sicher, was das angeht. Vielleicht hat er ja ein bisschen recht mit dem, was er gesagt hat. Prüde, komische Klamotten, und so ..." Ich sah demonstrativ an mir herunter und zupfte mit dem Finger an meinem weiten Schlabbershirt und meiner etwas zu weiten Jeans. "Ein Objekt der Begierde bin ich doch wirklich nicht, wenn ich mich mal so mit Dir vergleiche. Ich habe da einfach kein Händchen für."
"Ach, Merle, das ist doch Quatsch", sagte Anne und legte mir mitfühlend die Hand auf den Arm, "Du bist eine tolle Frau. Ok, Du hast vielleicht ein paar kleine Komplexe und bist etwas schüchtern, aber das ist doch noch lange kein Grund, dass jemand Dich so runterzieht." Kopfschüttelnd sprang sie auf und riss mich an der Hand mit sich. "Komm, wir gehen jetzt shoppen."
"Nein, Anne, bitte nicht", jammerte ich, "das bringt doch nichts."
"Und ob das was bringt! Du hast doch sicherlich genug Geld auf dem Konto, so wenig wie Du für Klamotten und sonstige Luxusgüter ausgibst. Also sei kein Geizkragen und lass uns gehen."
Freudig strahlte Anne mich an und irgendwie schaffte ich es nicht, ihr den Wunsch abschlagen. Ich hasste zwar nichts mehr als Shoppingtouren durch überfüllte Innenstädte, stickige Umkleidekabinen waren mir ein Graus und da ich mir die aktuelle Mode an meinem Körper zumeist eh nicht vorstellen konnte, verzichtete ich nur zu allzu gerne darauf. Heute würde ich aber wohl nicht darum herumkommen und folgte Anne schließlich ergeben in Richtung der ersten Boutique.
Vier Stunden später hatten wir in drei Läden ordentlich zugeschlagen und ich war stolze Besitzerin von vier - für meinen Geschmack viel zu engen - T-Shirts, zwei Gott sei Dank theoretisch auch hoch zuzuknöpfenden Blusen, zwei knackig sitzenden Jeanshosen, einem unverschämt kurzen Rock und einer wirklich schicken Lederjacke.
"So, jetzt brauchen wir nur noch die passenden Schuhe", freute Anne sich angesichts unserer Ausbeute und schwenkte fröhlich die gefüllten Plastiktüten durch die Luft.
"Lass uns das ein anderes Mal machen, ich kann schon nicht mehr laufen. Und diese ganze Anprobiererei macht mich wahnsinnig. Ich hasse Shoppen!", maulte ich, doch natürlich kam ich bei Anne auch damit nicht durch und eine weitere Stunde später besaß ich zwei Paar neue Schuhe.
Als wir endlich zum Verschnaufen ein weiteres kleines Café in der Innenstadt aufgesucht hatten und ich meine schmerzenden Beine massierte, ging Anne zum nächsten Angriff über.
"Jetzt wird es Zeit, dass wir endlich einen Mann für Dich finden", sagte sie bestimmt und begann sich demonstrativ umzugucken.
"Anne, bitte lass das, das ist echt peinlich", meinte ich verlegen und ging fast ein wenig in Deckung. "Ich glaube nicht, dass gerade hier der passende Mann rumsitzt."
"Nein, vermutlich hast Du recht", grübelte Anne mit gerunzelter Stirn, "aber ich habe da schon so eine Idee, die für Dich genau passend ist. Hast Du heute Abend schon was vor?"
Prüfend sah ich sie an und sagte misstrauisch: "Nein?"
"Prima, ich komme so gegen 20.00 Uhr direkt nach dem Sport bei Dir vorbei. Wir brauchen lediglich Deinen Computer."
Verwirrt schaute ich sie an, aber bevor ich den Mund zur Frage öffnen konnte, lächelte sie vielsagend: "Du wirst schon sehen..."
Abends machten wir es uns vor meinem nagelneuen Computer, auf den ich mächtig stolz war, gemütlich und tranken ein Glas Wein.
"Also, pass auf, es gibt da mittlerweile diverse