Mein Blick wanderte zurück auf den Bildschirm.
Ich kann das nicht abschicken, das ist verrückt und ganz ehrlich: Was zum Teufel soll das bringen? Nachdenklich betrachtete ich das Profilbild der geöffneten Facebook-Seite. Die Augen des Mannes, an den meine Nachricht gerichtet war, schienen mich regelrecht zu durchbohren ... so, als wollte er fragen, was ich eigentlich nach der langen Zeit von ihm wollte.
Er sah auch jetzt, nach 12 Jahren, die wir uns nun nicht mehr gesehen hatten, atemberaubend gut aus.
Sein dichtes schwarzes Haar umrahmte sein Gesicht immer noch so perfekt wie damals, auch wenn die Schläfen mittlerweile leicht ergraut waren. Die strahlendblauen Augen blickten leicht amüsiert in die Kamera, entspannt hielt er ein Glas Wein in der Hand. Es schien sich um einen Urlaubsschnappschuss zu handeln, denn im Hintergrund erkannte man das Meer und eine Felsformation ragte beeindruckend in den wolkenlosen Himmel.
Ja, da saß er, "mein" Tom.
Eigentlich hieß er Thomas, aber er hatte mir mal erzählt, dass ihn seit seiner frühesten Kindheit eigentlich niemand je so genannt hatte ... außer seiner Großmutter, die nichts von verniedlichten Vornamen hielt. Hatte ich vielleicht unbewusst deshalb meinen Sohn Sam genannt, weil es hier keine Möglichkeit gab, eine Koseform abzuleiten?
Mein Gott, was für ein Blödsinn, langsam drehte ich wirklich durch. Reiß Dich zusammen, mach einfach den verflixten Computer aus und geh an die Arbeit, schimpfte ich wieder mit mir.
Aber was, wenn ich doch auf Senden drückte und er vielleicht sofort an mich denkt? Er würde zurückschreiben, würde fragen "Merle, bist Du das?" und der Ball wäre ins Rollen gekommen ...
Ein schrilles Klingeln durchbrach die Stille des Wohnzimmers und ich zuckte erschrocken zusammen. So versunken war ich gerade in meiner Traumwelt gewesen, dass mich unser Telefon fast zu Tode erschreckte.
Ich sprang auf und durchsuchte den Raum nach dem Mobilteil. Irgendwann fand ich es schließlich auf dem Esszimmertisch und hörte, kaum dass ich mich gemeldet hatte, die fröhliche Stimme meiner besten Freundin Anne: "Stell Dir vor, ich habe gerade den neuen Job bekommen! Die wollen, dass ich noch diesen Monat anfange. Ach, Merle, endlich kommt wieder Bewegung in mein Leben!"
Ich lachte: "Anne, das ist phantastisch, ich freue mich so sehr für Dich. Wo genau wirst Du denn anfangen?"
Aufgeregt erzählte sie mir von dem kleinen Stadtblatt, das letzten Monat die Stelle einer Grafikdesignerin ausgeschrieben hatte. Sie habe sich eigentlich keinerlei Chancen ausgerechnet, wir seien schließlich keine 30 mehr und mit zunehmendem Alter werde es für uns Frauen ja bekanntlich schwieriger auf dem Stellenmarkt, aber ihre Entwürfe seien wohl so gut angekommen, dass sie in die engere Auswahl gekommen war. Heute Morgen hatte sie dann die endgültige Zusage bekommen und war völlig aus dem Häuschen.
"Mein Gott", seufzte sie aus tiefstem Herzen, "bald verdiene ich endlich wieder mein eigenes Geld und kann hier bei meinen Eltern raus. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich darauf freue."
Doch, das konnte ich sehr wohl. Anne hatte eine schlimme Scheidung hinter sich ... man könnte auch sagen, eine Schlammschlacht von fast nicht zu fassendem Ausmaß ... und mangels Job und Geld zurück zu ihren Eltern flüchten müssen. Und seien wir mal ehrlich? Wer bitte möchte mit 41 Jahren wieder in sein Elternhaus zurückziehen? Also, ich persönlich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, auch wenn ich meine Eltern abgöttisch liebte und wir fast jeden Tag mindestens einmal miteinander telefonierten.
Dennoch war man mit Anfang 40 definitiv in einem Alter, in dem man entweder mit seiner eigenen Familie oder zumindest allein leben sollte.
"Wir müssen das unbedingt feiern, Merle, außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr gesehen. Wie passt es Dir morgen Abend? Wir gehen ins Paulo`s und lassen es uns mal wieder so richtig gut gehen", unterbrach Anne meine Gedanken.
"Hm ... ich weiß nicht, ich muss das mit Andy besprechen, wenn er heute Abend wiederkommt. Du weißt doch, dass er momentan so viele auswärtige Termine hat und abends erst immer spät hier ist. Sam kann ich schließlich nicht allein lassen," überlegte ich laut, "aber ich klär das und melde mich später nochmal, ok?"
Nachdem ich noch mehrfach versprochen hatte, auf jeden Fall mein Bestes zu geben, um meinen Mann zu überreden, morgen doch bitte einmal pünktlich zu sein, legten wir auf.
Gedankenverloren blieb ich mit dem Telefon in der Hand im Raum stehen und blickte mich um. Vielleicht sollte ich jetzt wirklich mal anfangen, mich ein bisschen um Ordnung und Sauberkeit in diesem Haus zu kümmern.
Ich ließ also den Computer Computer sein, um in der Küche erstmal die Geschirrberge in die Spülmaschine einzuräumen. Ich könnte mich später noch mit dieser absurden Idee einer anonymen Mail an Tom befassen ... hoffentlich mit klarerem Kopf.
Später stand ich vor dem Kalender, um die Termine für den heutigen Tag zu checken. Ok, heute ich Dienstag, Sam hatte also am Nachmittag Fußballtraining, vorher mussten wir kurz beim Arzt vorbei, um seine hoffentlich jetzt komplett abgeklungende Mittelohrentzündung nachsehen zu lassen, und auf dem Weg dahin würden wir kurz bei unserem Steuerberater halten, um die Steuererklärung einzureichen.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich nur noch genau anderthalb Stunde Zeit hatte, um einzukaufen und das Mittagessen vorzubereiten, bevor Sam aus der Schule kam. Hatte ich tatsächlich fast den gesamten Vormittag damit zugebracht, eine so kurze Mail an einen Mann zu schreiben, den ich seit 12 Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte, um sie dann stundenlang anzustarren und letztendlich doch nicht abzusenden? Ich musste wirklich verrückt sein.
Nachdem ich rasch zum Supermarkt geradelt war, um die Zutaten für einen Nudelauflauf zu besorgen, bog ich gerade wieder um die Ecke, als ich den silbernen Kombi meines Mannes auf unsere Auffahrt fahren sah. Was machte er denn um diese Uhrzeit hier? Es kam äußerst selten vor, besser gesagt eigentlich nie, dass Andy in der Woche mittags nach Hause kam. Entweder war er plötzlich krank geworden oder er hatte etwas sehr Wichtiges vergessen.
Andy leitete eine mittelständische Baufirma, die er in zweiter Generation von seinem Vater übernommen hatte. Hans, Andys Vater, war zwar immer noch regelmäßig im Büro, ließ seinem Sohn aber mittlerweile alle Entscheidungsfreiheiten und stand ihm nur noch beratend zur Seite.
Die beiden hatten wirklich ein sehr harmonisches Verhältnis und manchmal fragte ich mich, warum es mit Dorothea, Andys Mutter, so ganz anders gekommen war. Sie hatte die Familie verlassen, als Andy und seine Schwester Marlene noch Kinder gewesen waren, um sich selbst zu verwirklichen. So hatte sie es zumindest ausgedrückt. Die Enge in der niedersächsischen 160.000 Einwohner-Stadt, in der wir lebten, habe sie erdrückt und ihr die Luft zum Atmen genommen.
Nun atmete sie bereits seit 30 Jahren die Berliner Großstadtluft und ließ sich höchstens zu runden Geburtstagen - und dann auch nur höchst widerwillig - bei uns blicken. Sie war in Berlin als "freischaffende Künstlerin" tätig, was jedoch genau ihre Kunstwerke waren, hatte ihre Familie in all den Jahren nicht herausfinden können. Sie lebte ihr Leben und hatte offenbar nie das Bedürfnis verspürt, zumindest ihre Kinder daran teilhaben zu lassen.
Hans und Dorothea waren zwar nie geschieden worden, sprachen aber bei den seltenen Zusammentreffen höchstens ein paar höfliche Worte miteinander. Ich empfand diese offensichtlichen Spannungen immer als sehr unangenehm, da ich selbst eine so behütete und glückliche Kindheit verlebt hatte und mir gar nicht vorstellen konnte, was es überhaupt bedeutete, bei nur einem Elternteil aufzuwachsen, noch dazu beim Vater.
Andy selbst sprach nie gern über seine Mutter und in den 10 Jahren, die wir mittlerweile zusammenwaren, hatte er mir immer nur so häppchenweise Informationen über sie zukommen lassen, dass ich manchmal das Gefühl hatte, sie eigentlich kaum zu kennen. Wahrscheinlich hatte er ihr nie verziehen, dass sie ihn und seine kleine Schwester damals einfach so zurückgelassen hatte.
"Hey, was machst Du denn hier, hast Du was vergessen?", fragte ich atemlos, als ich nach einem kurzen Sprint mit dem Rad neben ihm vor der Haustür zum Stehen kam.
Andy