Kling Glöckchen. Friedrich Bornemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Bornemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847678298
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hingen. Berger hatte solche Anhängsel auch schon auf anderen Baustellen gesehen und sich gefragt, wozu diese - bevorzugt an Wochenenden - dort aufgehängt wurden. Um ihren Diebstahl zu verhindern? Eine plausiblere Antwort war ihm bisher nicht eingefallen.

      In der Regel war es noch stockdunkel, wenn Berger zwischen vier und fünf Uhr dreißig auf seiner morgendlichen Tour unterwegs war. Heute schien der Mond, der sich allerdings zeitweise hinter Wolken versteckte. Der Kranausleger hoch oben war trotzdem gut zu sehen. An dem Haken baumelte diesmal etwas Rechteckiges. Mehr war von unten nicht zu erkennen.

      Berger hatte in der Zeitung gelesen, dass die aus einem Steinbruch in der Eifel stammenden Sandsteine bei einem Fachunternehmen in Weimar bearbeitet wurden, das langjährige Erfahrungen in Denkmalsanierung und -restaurierung hatte. ‚Steinmetz’, so lautete die Berufsbezeichnung der Mitarbeiter. Berger überlegte, wie wohl der korrekte Ausdruck für deren Tätigkeit hieß: ‚steinmetzeln’? Wenn das stimmte, dann würden die armen Steine gemetzelt und luftdicht verschnürt nach Wesel entführt, um hier Stück für Stück in dem Gesamtkunstwerk „Historische Rathausfassade“ zu verschwinden.

      Berger musste grinsen. Die Fantasie war mal wieder mit ihm durchgegangen. Das passierte ihm öfter.

      Im nächsten Augenblick schien der Mond ungehindert durch ein Wolkenloch, und die dunklen Konturen der Palette waren von unten deutlich erkennbar. Berger ging weiter. „Komisch“, murmelte er. Ihm war so, als hätte er für einen kurzen Moment an einer der Außenkanten der Palette etwas gesehen, was da nicht hingehörte; so etwas wie eine Hand, die ihm zuwinkte.

      „Quatsch“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. „Frank, du siehst Gespenster.“ Berger ertappte sich manchmal dabei, dass er auf seinem einsamen Weg mit sich selbst sprach und sich dabei mit seinem Vornamen anredete. Aber außer ihm und seinen Kollegen war um diese Zeit ja auch niemand unterwegs, mit dem er sich hätte unterhalten können. Er blickte noch einmal nach oben. Der Mond war wieder verschwunden und die Palette nur noch als viereckiges dunkles Etwas erkennbar.

      „Alles paletti!“, sagte er und erschrak vor seiner eigenen, etwas rauen Stimme auf dem ansonsten totenstillen Platz. Dann wurde ihm sein unbeabsichtigtes Wortspiel bewusst: Palette und paletti! Er lachte laut und blieb einen Moment stehen, um die nächsten Zeitungen aus seinem kleinen Handkarren zu nehmen. In diesem Augenblick zog der Zeitungsbote von der Konkurrenz mit einem freundlichen „Moin, moin, Kollege! Heute so gut aufgelegt?“ an ihm vorbei.

      Ferngesteuert

      Als der Polier Helge Wippert und sein Geselle Kain Kruse um kurz nach Sieben auf ihrer Baustelle am Großen Markt ankamen, bemerkten sie zu ihrem Erstaunen, dass am Kran eine Palette hing, die da nicht hingehörte.

      „Hast du die Palette da aufgehängt?“, fragte Wippert mit Blick nach oben. Die Antwort von Kruse, der am Vorabend als Letzter die Baustelle verlassen hatte, kam postwendend: „Nein!“

      „Komisch“, meinte der Polier. „Die kommt doch nicht von selbst dahin.“ Dann blickte er noch einmal nach oben und traute seinen Augen nicht. Über eine der Längskanten der Palette ragte – von unten deutlich erkennbar – eine Hand.

      „Siehst du auch, was ich sehe?“, fragte er.

      „Ja, die Palette“, erwiderte der Geselle.

      „Nein, die meine ich nicht. Sieh noch mal genau hin.“

      „Ach, du meinst die Hand“, kam die lakonische Antwort des Gesellen.

      „Ja, eine Hand. Findest du das normal?“

      „Jedenfalls nicht aufregend. Vor ein paar Jahren hat schon mal jemand versucht, mich mit so einer Gummihand zu erschrecken. Die hing aus seinem Kofferraum und sah auch verblüffend echt aus.“

      „Und jetzt willst du mich damit reinlegen?“

      „Nein, will ich nicht. Ich war das nicht.“

      „Okay. Du warst es nicht. Ich war es auch nicht. Dann wollen wir uns das Ding mal aus der Nähe ansehen. Hol mal die Fernsteuerung.“

      Der Geselle kam kurz danach zurück: „Die ist weg!“

      „Wer ist weg?“

      „Die Fernsteuerung ist nicht da!“

      „Das gibt’s doch nicht!“

      Inzwischen war ein leichter Wind aufgekommen, und die Palette über ihnen begann sich leicht zu bewegen. Die beiden starrten nach oben und beobachteten verwundert, dass sich die Hand bewegte. Es sah aus, als wenn sie ihnen zuwinkte. Und dann rutschte plötzlich ein ganzer Arm über die Kante der Palette und schaukelte im Wind.

      Kruse meinte grinsend: „Besser arm dran als …“

      „Lass deine blöden Witze!“, wurde er von Wippert unterbrochen. „Ich glaube, das ist kein Scherz. Da liegt einer auf der Palette.“

      „Quatsch! Wie soll der denn da oben hingekommen sein?“

      „Das weiß ich auch nicht. Starte mal den Kran von Hand. Ich sehe mir inzwischen das Ganze von oben an.“

      Kruse verschwand in Richtung Kran. Wippert rannte zum Baugerüst, das links – dort, wo später der Turm der Historischen Rathausfassade entstehen sollte – bereits bis zur oberen Fensterreihe des Hauses Nr. 9 reichte, und kletterte, so schnell er konnte, nach oben. Als er dort angekommen war, stellte er fest, dass der Kranausleger mitsamt der daran hängenden Palette immer noch ein ganzes Stück über ihm schwebte. Er sah, dass die untere Fläche der Palette mit irgendwelchen roten Buchstaben beschriftet war. Lesen konnte er das aus seiner Perspektive nicht. Und was auf der Palette lag, konnte er ebenfalls nicht sehen.

      „Ich kann nichts erkennen. Das ist zu hoch“, rief er nach unten.

      Kruse hatte in der Zwischenzeit das Krangehäuse geöffnet und rief: „Jetzt müsste es gehen. Soll ich die Palette absenken?“

      „Ja, aber ganz langsam. Und erstmals nur ein paar Meter.“

      Man hörte das Surren des sich langsam abrollenden Stahlseils, und die Palette bewegte sich zentimeterweise nach unten. Als sie auf gleicher Höhe mit Wippert angekommen war, rief der: „Vorsichtig stopp!“

      Das Surren hörte auf, und die Palette schaukelte langsam hin und her.

      „Siehst du was?“, rief Kruse nach oben.

      Es dauerte einen Moment. Dann kam die Antwort:

      „Da liegt tatsächlich jemand drauf! Ein Mann! Er

      bewegt sich nicht! Lass mal ganz langsam runter.

      Ich komme auch.“

      Der Polier war früher wieder unten als die Palette. Er war hinuntergerannt, so schnell er konnte, und beobachtete jetzt, wie der Geselle vorsichtig den Kran stoppte. Die Palette schwebte etwa einen Meter über dem Boden, auf dem überall in Folie verschweißte Pakete mit fertigen Steinen verteilt waren.

      „Sieht aus wie ein Mann“, stellte Kruse fest. „Wie ein nackter Mann. Wie ein eingerahmter toter nackter Mann.“

      Die Palette war auf der Oberseite mit einer schwarzen, an den Rändern festgetackerten Kunststoff-Folie bespannt. Rundherum lief ein etwa vier Zentimeter breiter ockerfarbiger Rand. Auf der Palette lag ein völlig textilfreier, nur mit Sportschuhen und einer Armbanduhr bekleideter Mann, lang ausgestreckt, auf dem Rücken, mit gespreizten Beinen und ausgebreiteten Armen. Er hatte eine sportliche Figur und ziemlich lange dunkle Haare. Der Anblick erinnerte Wippert spontan an eine Zeichnung von Leonardo da Vinci: die berühmte Proportionsstudie des ‚vitruvianischen Menschen’. Die war ihm während seiner Ausbildung zum Steinbildhauer ein paar Mal begegnet, und er hatte sich mit der Theorie des ‚wohlgeformten Menschen’, die ursprünglich von dem römischen Architekten Marcus Vitruvius Pollio stammte, eingehend beschäftigt. Vor Jahren hatte er sich sogar das Original der Tintenzeichnung von da Vinci in der ‚Gallerie dell’ Academia’ in Venedig angesehen. Und seit er im vergangenen Sommer im Urlaub in Italien gewesen war, trug er den