Kling Glöckchen. Friedrich Bornemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Bornemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847678298
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wies Enna ihn grinsend zurecht.

      „Deine Designertasche aus Dinslaken finde ich jedenfalls besser. Und die war viel billiger.“

      „Preiswerter“, korrigierte ihn Enna. „Du hattest daran auch etwas zu meckern, als ich die gekauft habe.“

      „Ich kann mich nicht erinnern.“

      „Ich umso besser. Du hast gesagt, die sähe aus wie ein Bündel getrockneter Tabakblätter!“

      „Na ja, tut sie doch auch. Aber immer noch besser als dieser Gemüsebeutel.“

      Der Gesang der Kleinen wurde jetzt lauter und ihr Eis immer glitschiger. Beo blickte zu der Mutter hinüber und versuchte, sie auf das drohende Unheil aufmerksam zu machen:

      „Äh, junge Frau, ihre Toch…“. Weiter kam er nicht. Ziemlich rüde wurde er angefahren:

      „Äh, junger Mann, lassen Sie das Kind in Ruhe! Wenn der Gesang Sie stört, dann setzen Sie sich doch woanders hin! Ist doch schön, wenn Kinder singen! Hört man viel zu selten!“

      Sprach’s und vertiefte sich wieder in ihre Zeitung. Beo schob noch „Äh, aber, ich wollte doch

      nur …“ nach. Dann gab er auf.

      Inzwischen nahm das Unheil – von der Mutter unbemerkt - seinen Lauf: Die Kleine machte vor Schreck über die Auseinandersetzung zwischen Beo und ihrer Mutter eine unkoordinierte Bewegung mit der Waffel, und die übrig gebliebene Eiskugel nutzte die Gelegenheit, Bekanntschaft mit der Gucci-Tasche zu machen. Die glitschige Masse beschrieb einen halbkreisförmigen Bogen und verschwand dann im Innern der Tasche, wo sie sich vermutlich inmitten der bei solchen Objekten üblichen Ansammlung von unentbehrlichen Utensilien ausbreitete. Kurz danach blickte die Mutter von ihrer Zeitung auf.

      „Ah, Anna-Natalie, du bist fertig. Dann können wir ja gehen.“

      Sie klappte ihre VOGUE zusammen, steckte diese ebenfalls in die Tasche, und verschwand mit Anna-Natalie.

      Beo und Enna schienen das nicht mehr mitzubekommen. Sie schauten interessiert zur gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes, wo die historische Weseler Rathausfassade - 555 Jahre nach ihrem ursprünglichen Bau und 65 Jahre nach der Zerstörung durch die Alliierten - wieder entstehen sollte. Die gesamte Baustelle war durch einen mannshohen Zaun und eine zusätzliche Plane abgesperrt, die die Sicht auf die Arbeiten verhinderte. Man konnte aber über dem Zaun das Haus Nr. 9 erkennen, das in den nächsten Monaten allmählich hinter der - in Anlehnung an alte Pläne und Fotos neu erstehenden - Gotikfassade verschwinden würde.

      Als die Kleine und ihre Mutter den Marktplatz verlassen hatten, brachen Beo und Enna in wieherndes Gelächter aus.

      „Stell dir das Gesicht der Alten vor, wenn sie zu Haus ihre Handtasche aufmacht“, japste Enna, als sie wieder einigermaßen sprechen konnte.

      Beo reimte grinsend: „Die Gucci ist dann flutschi.“

      Und Enna ergänzte lachend: „Und die VOGUE ook.“

      Kumpanei

      Am nächsten Morgen sprang Beo bestens gelaunt aus dem Bett. An diesem Tag gab es gleich zwei Gründe für ihn, sich zu freuen: Zum einen herrschte draußen das Sonnenhoch ‚Beowulf’. Er betrachtete das herrliche Wetter als sein ganz persönliches. Natürlich durften auch die übrigen, insbesondere alle netten Zeitgenossen, daran teilhaben. Aber schließlich hieß nur er Bengt Ole - abgekürzt Beo - Wulf. Dabei war er sich durchaus bewusst, dass der Name des aktuellen Sonnenhochs sich nicht auf ihn, sondern auf den Protagonisten des gleichnamigen angelsächsischen Heldenepos bezog. Das konnte seine gute Stimmung aber nicht mindern.

      Außerdem sollte heute auf der Baustelle auf dem Großen Markt ein ganz besonderer Stein eingebaut werden: das ‚Tympanon’, ein geschmücktes Giebelfeld über dem Türsturz, unter dem sich später die Eingangstür zum Turm befinden würde.

      Beo hatte die Auseinandersetzungen über den Sinn oder Unsinn einer nachgebauten Gotikfassade von Anfang an mit Interesse verfolgt. In Wesel gab es zwei diametrale Lager: eines, das den Wiederaufbau eines verloren gegangenen Baudenkmals grundsätzlich ablehnte mit der Begründung: ‚Was kaputt ist, ist kaputt! Und durch einen Wiederaufbau kann nichts wirklich Neues entstehen’. Die Anhänger des anderen Lagers sehnten sich nach einem Stückchen sichtbarer Geschichte in ihrer Heimatstadt, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges fast völlig zerstört worden war. Später, beim Wiederaufbau der Innenstadt nach dem Krieg, hatten - mit Ausnahme des Willibrordi-Doms - mehr pragmatische Aspekte im Vordergrund gestanden.

      Beo und Enna fanden den ganzen Großen Markt nicht besonders attraktiv; vor allem störten sie die deutlichen Stilunterschiede zwischen dem spätgotischen Dom und der modernen Glasfassade der gegenüberliegenden Bank. Auch die einheitlich gestaltete Trapp-Zeile auf der einen und die ziemlich heterogene Häuserreihe auf der anderen Längsseite des Platzes passten ihrer Ansicht nach nicht recht zusammen. Beo und Enna konnten sich deshalb die Rekonstruktion der spätgotisch-flämischen Rathaus-Fassade als Blickfang sehr gut vorstellen. Und sie hatten mit einem kleinen Beitrag – im Rahmen ihrer Möglichkeiten - zur Realisierung des Projektes beigetragen. Damit befanden sie sich in guter Gesellschaft mit vielen Gleichgesinnten; unter ihnen auch einige Prominente wie Hanns Dieter Hüsch, Günther Jauch oder der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck.

      Bei der Grundsteinlegung war Beo auch dabei gewesen. Und seit dem Baubeginn hatte er sich regelmäßig über den Fortgang der Baumaßnahmen informiert. Ihn faszinierte auch der große Kran, mit dem die einzelnen vorbearbeiteten Steine millimetergenau von oben zwischen der Hausfassade und dem Baugerüst an ihren Bestimmungsort bugsiert wurden; per Funk-Fernsteuerung vom Gerüst aus. Bei einem seiner Besuche hatte er von dem Polier erfahren, dass der verwendete Sandstein aus der Eifel sehr empfindlich sei, und dass vor allem die Kanten und vorspringenden Teile leicht beschädigt werden konnten.

      Heute war also das Tympanon an der Reihe, der erste große Schmuckstein in der allmählich wieder erstehenden Rathausfassade. Er sah aus wie ein flacher Giebel. In der Mitte war eine Schriftrolle eingearbeitet, auf der ‚RENOVAT ANNO 1740’ zu lesen war, die also auf eine Renovierung der ursprünglichen Fassade im Jahre 1740 hinwies.

      Es dauerte einige Zeit, bis der schwere Stein genau an der richtigen Stelle saß. Der natürlich anwesende Dombaumeister stellte schließlich fest: „Sitzt, passt, wackelt und hat Luft!“, und ein rundes Dutzend Zuschauerinnen und Zuschauer applaudierte.

      Beo machte später noch ein paar Fotos für seine Sammlung. Die übrigen Besucher waren inzwischen verschwunden. Auch die Arbeiter waren jetzt nicht mehr zu sehen. Dann setzte sich plötzlich der Kran in Bewegung. Der Haken, an dem kurz vorher noch der Schmuckstein gehangen hatte, wurde langsam nach oben gezogen. Danach war es wieder still.

      Beo glaubte nicht an Geister oder Heinzelmännchen. Das konnte nur einer der Arbeiter sein, der sich irgendwo versteckte. Aber warum? Beo wusste es nicht. Er schoss noch ein letztes Foto von der menschenleeren Baustelle und machte sich dann wieder auf den Heimweg.

      Alles paletti

      Frank Berger war wie jeden Morgen sehr zeitig auf dem Großen Markt in Wesel unterwegs. Er machte seine tägliche Runde von Haus zu Haus und sorgte dafür, dass die Bewohner des Dom-Viertels schon beim Frühstück einen Blick in ihre Tageszeitung werfen konnten.

      An manchen Tagen war der Kollege vom Konkurrenzblatt schneller. Das ärgerte Berger, weil er dann den insgeheim für sich ausgerufenen Wettbewerb ‚Schnellster Weseler Zeitungsbote’ an diesem Tag verloren hatte. Das ließ sein Ehrgeiz nicht zu.

      Berger lief gerade um den mannshohen und mit Planen verhängten Bauzaun herum, der die kunstvolle Arbeit der Steinmetze an der Historischen Rathausfassade vor neugierigen Blicken schützte. Die Handwerker waren um diese Zeit natürlich noch nicht da. Der Bauzaun schon. Deshalb musste Berger jeden Morgen im Karree mitten über den Großen Markt laufen, um vom Haus Nummer 11 zur Nummer 7 zu gelangen. Dabei warf er meistens einen kurzen