Ein merkwürdiger Bau aus zwei Stühlen und Holzstangen, darüber zwei dunkle Wolldecken gelegt, weckte Canyons Aufmerksamkeit.
„Stevies Höhle“, beantwortete Soonias ihre unausgesprochene Frage. „Er liebt Höhlen.“
Canyon versuchte, sich aus den spärlichen Sätzen des Mannes und dem, was sie sah, etwas zusammenzureimen. Stevie hatte draußen im Wald eine Höhle und er hatte eine in seinem Zimmer. Musste der Junge sich vor etwas verstecken? So wie sie sich mit zwölf im Kleiderschrank versteckt hatte, weil sie sich fürchtete? Warum liebte Stevie Soonias die Dunkelheit und das Alleinsein? Gab es irgendetwas, das falsch war an dem, was sie sah?
Canyon setzte sich auf das Bett des Jungen und betrachtete ein Foto auf seinem Nachtschrank, das ihn zusammen mit seinem Vater zeigte. Stevie lachte in die Kamera. Er war ein ausnehmend hübscher Junge mit feinen Gesichtszügen, ausdrucksvollen dunklen Augen und langem Haar, das ihm über die Schultern fiel. Sie wollte nach dem Bild greifen, um es sich genauer anzusehen, als plötzlich ein felliges Ungeheuer mit ärgerlichem Gezeter hinter dem Kopfkissen hervorschoss. Sie schrie erschrocken auf. Mit zusammengepressten Knien und angehobenen Füßen verharrte sie regungslos.
„Das war bloß Edgar, Stevies Waschbär“, bemerkte Soonias spöttisch. „Sie haben ihn bei seinem Nickerchen gestört.“
Hätte Canyon Jems Lächeln sehen können, hätte sie gewusst, dass er nicht so war, wie sie ihn einschätzte. Aber sie sah dem Tier nach, das mit erhobenem Schwanz beleidigt davonzog.
„Edgar Wallace?“, wollte sie wissen, nachdem sie ihre Füße wieder auf den Boden gesetzt und mit einem geübten Blick den Bücherstapel auf Stevies Nachtschrank inspiziert hatte.
„Nein, Edgar Allen Poe.“
„Ist Stevie nicht noch ein bisschen jung für solche Lektüre?“
„Stevie liest eben andere Sachen als die meisten Jungen in seinem Alter.“ Er griff sich ein Buch aus dem Regal. „Sehen Sie: Hemingway.“
„Haben Sie ihm diese Bücher empfohlen?“
„Ich gebe Tipps, nichts weiter. Er liest, was ihn interessiert. Nipigon hat eine kleine Bibliothek.“
Weil Canyon inzwischen auch einen großen Stapel Comichefte auf dem Fußboden entdeckt hatte, und Spiele wie Scrabble und Monopoly, hielt sie Poe und Hemingway nicht mehr für besorgniserregend.
„Ist Stevie gut in der Schule?“
Jem zuckte die Achseln. „Seine Noten sind in Ordnung.“
„Hat er Pläne für die Zukunft?“
Jem Soonias bedachte sie mit gerunzelter Stirn. „Er ist erst neun.“
„In seinem Alter wollen Jungs Fußballstar werden oder Feuerwehrmann – etwas in der Art.“
„Stevie möchte Arzt werden“, sagte er. „Weil er verhindern will, dass Mütter sterben, nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht haben.“
Canyon spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Auf Distanz bleiben. „Welche Fächer unterrichten Sie eigentlich, Mr Soonias?“, fragte sie so unbeirrt wie möglich.
„Englisch, Stammessprache und amerikanische Geschichte.“
„Macht Ihnen Ihr Beruf Freude?“
„Natürlich“, erwiderte Jem verwundert. „Sonst hätte ich mir längst einen anderen gesucht.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat diese Frage auch etwas mit Stevies Verschwinden zu tun?“
„Nein“, sagte sie. „Das hat mich persönlich interessiert.“ Sie stand auf, ging zum Fenster und blickte auf den Dorfplatz hinaus, wo ein paar Kinder mit Stöcken barfuß einem Ball hinterher jagten. Die Jungen und Mädchen waren von oben bis unten mit Schlamm bespritzt und schienen sich herrlich zu amüsieren. Ihr Lachen hörte sich gut an, irgendwie tröstlich. Eine bunte Hundemeute rannte ebenfalls dem Ball hinterher und begleitete das Spiel mit aufgeregtem Bellen.
„Was ist mit Freunden?“ Sie wandte sich um und strich sich eine Strähne ihres schulterlangen Haares aus der Stirn. „Hatte Stevie viele Freunde?“
Jems Gesicht wurde auf der Stelle wieder abweisend. „Was heißt hatte? Und wie kommen Sie darauf, dass er keine Freunde haben könnte?“
„Nun, Stevie fährt mit dem Rad fast zwei Kilometer, um in seinem eigenen Reich zu spielen, wo doch alle seine Altersgenossen hier auf dem Dorfplatz herumtoben.“
„Manchmal ist er lieber allein.“
„Ist Stevie beliebt bei den anderen Kindern? Hat er Feinde?“
„Feinde?“ Jem sah sie entgeistert an. „Wie kann ein neunjähriger Junge Feinde haben?“
Sie hob die Schultern. „Sich unbeliebt machen, ist ziemlich einfach.“
„Ich glaube nicht, dass Stevie Feinde hat. Mag sein, dass er ein wenig eigenbrötlerisch ist, aber mein Sohn ist ein freundlicher Junge und die anderen Kinder haben ihn immer mit Respekt behandelt. Jedenfalls hat er sich nie beschwert.“
Canyon betrachtete ihn von der Seite. Bring es hinter dich. „Sind Sie ein guter Vater, Mr Soonias?“
Jem schien einen Moment zu brauchen, um diese Frage zu verarbeiten. Sein Körper verspannte sich und seine schwarzen Augen funkelten zornig. „Warum sparen wir uns dieses Gespräch nicht einfach, Miss Toshiro, und Sie sagen mir, was Sie wirklich denken. Mein Sohn ist verschwunden und das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist jemand, der mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben will. Glauben Sie, ich hätte Stevie vernachlässigt und er ist davongelaufen? Gibt es einen Verdacht gegen mich?“
„Das habe ich nicht gesagt“, verteidigte sie sich. „Aber wir müssen die Möglichkeit, dass er davongelaufen sein könnte, genauso in Betracht ziehen, wie alles andere.“
In den meisten Fällen waren Kinder, die als vermisst gemeldet wurden, von zu Hause weggelaufen. Manchmal waren die Gründe offensichtlich, manchmal aber auch nicht. Stevie war erst neun, deshalb schien Canyon diese Möglichkeit nicht sehr wahrscheinlich. Es sei denn, der Junge war vor etwas davongelaufen, dass ihn quälte und dass er nicht mehr ertragen konnte. Danach sah es zunächst einmal nicht aus, aber der Schein konnte trügen. Meist spürte Canyon sehr schnell, ob sie es mit einem Ausreißer zu tun hatte, oder ob ein Verbrechen vorlag. Anhand des Zimmers, des Fotos und Stevies persönlicher Sachen versuchte sie, die Gegenwart des Jungen zu erspüren. Doch diesmal versagte ihre Intuition. Dieser Fall war anders als alle, die sie bisher bearbeitet hatte.
„Und was gibt es Ihrer Meinung nach noch für Möglichkeiten?“, wollte Jem wissen.
Er war ihr unangenehm nahe gekommen und seine erneut aufkeimende Aggressivität hielt sie für ein schlechtes Zeichen. Canyon bekam Angst, dass er sich in seinem Zorn vergessen könnte. Gerne hätte sie sich auch noch die anderen Räume des Hauses angesehen, vor allem die Küche, hielt das aber im Augenblick für keinen guten Zeitpunkt.
Canyon wandte sich zum Gehen und mit einem letzten Rest Beherrschung in der Stimme fragte sie: „Gibt es da draußen wilde Tiere?“
Jem Soonias lachte kopfschüttelnd und diesmal war sein Lachen kalt und abweisend. Er folgte ihr durch den Flur. „Ja klar, Wölfe und Bären.“ Bevor Canyon die Haustür öffnen konnte, schnappte er sie am Arm und instinktiv versteifte sich ihr Körper. Die Stelle, an der er sie festhielt, begann zu kribbeln und wurde taub. Eine Fühllosigkeit, die sich auf ihren ganzen Körper auszubreiten drohte.
Canyon bereute es, den Mann so in die Enge getrieben zu haben. Das war eigentlich nicht ihre Art, denn mit solchen Situationen hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht.
Einmal, ganz zu Beginn ihrer Tätigkeit im Jugendamt, hatte ein aufgebrachter Vater sie als Geisel genommen. Sie hatte den Mann im Gespräch verdächtigt, seine kleine Tochter krankenhausreif geprügelt zu haben. Er schloss Canyon im Badezimmer ein und drohte damit, sie nicht eher gehen zu lassen,