„Ich habe meinen eigenen Sohn adoptiert.“
Canyon wollte ihm sagen, dass sie erst seit anderthalb Jahren im Jugendamt von Thunder Bay arbeitete und daher nichts über die alte Geschichte wissen konnte. Aber sie ließ es bleiben, als sie sein verschlossenes Gesicht sah. Halbseidene Zugeständnisse würden diesem Mann keine Sympathie entlocken. Da müsste schon ein Wunder geschehen. Und Canyon Toshiro glaubte seit langer Zeit nicht mehr an Wunder.
2.
Nach wenigen Minuten erreichten sie die Indianersiedlung am Dog Lake, die größer war, als Canyon zuerst angenommen hatte. Es war eine Ansammlung von rund dreißig Holzhäusern in pastellfarbenem Einheitsanstrich, verstreut zwischen Bäumen und zerzausten Sträuchern, die langsam grün wurden. Windschiefe Bretterschuppen klebten an den Häuserwänden, alte Autos standen davor und hier und da rostete ein Skidoo, ein Motorschlitten, vor sich hin. Zwischendrin bunte Wäschestücke, die zum Trocknen auf der Leine hingen und Stangengerüste, auf denen Fisch dörrte.
Neben einem der Häuser stand ein großes, mit ausgebleichtem Segeltuch bespanntes Tipi, das mit stilisierten Tierfiguren bemalt war und sie daran erinnerte, wo sie sich befand.
Auf dem Dorfplatz gab es einen kleinen Gemischtwarenladen auf dem Dorfplatz, der sich „Pinkies Store“ nannte. Es war ein einfaches Holzhaus mit vergitterten Fenstern, von dessen Bretterwänden die weiße Farbe blätterte. Ein holpriger Bohlensteg führte zum Eingang, Schilder mit Pepsi- und Eiscremewerbung prangten über der offenen Tür. Die dunkle Erde auf dem Dorfplatz war aufgeweicht und schlammig, aber über den Steg kam man vom Ufer des Sees trockenen Fußes bis zum Laden. Dunkelhäutige Kinder saßen auf den Stufen vor dem Eingang, leckten Eis am Stiel und gestikulierten lachend. Ihre bunten Fahrräder hatten sie achtlos im Morast liegengelassen.
Vielleicht war Stevie da drinnen und kaufte sich gerade ein Eis. Vielleicht hatte er vergessen, dass sein Vater mit ihm ins Kino gehen wollte. Canyon bremste und stellte den Motor ab. Sie machte Anstalten auszusteigen, um die Kinder nach dem Jungen zu fragen. Doch Jem Soonias hielt sie mit festem Griff am Arm zurück.
„Die Mühe können Sie sich sparen, Miss“, sagte er. „Ich habe bereits überall in der Siedlung herumgefragt. Stevie ist nicht hier. Glauben Sie mir, ich hätte die Polizei nicht herbemüht, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, dass etwas nicht stimmt.“
Er zeigte auf ein Holzhaus am Waldrand mit weißen Fensterrahmen und Dachrändern, das sich durch seinen kräftig gelben Anstrich von den anderen Häusern unterschied. „Dort hinten wohnen wir.“
Sein energischer Griff war Canyon unangenehm und sie war erleichtert, als er sie wieder losließ. Schon spürte sie dieses unangenehme Kribbeln unter der Haut, dort, wo er sie berührt hattee. Sie brachte den Toyota neben einem schlammbespritzten Jeep Cherokee mit Pseudoholzleisten zum Stehen und wandte Jem ihr Gesicht zu. „Sind Sie verheiratet, Mr Soonias?“
„Nein“, antwortete er unwirsch. Die Gereiztheit war wieder da.
Jem stieg aus, schlug die Wagentür zu und betrat die Stufen zum Hauseingang. Canyon bemerkte, dass er auf ihrem Blazer gesessen hatte, der jetzt zerknittert auf dem Beifahrersitz lag. Sie holte ihre Tasche vom Rücksitz und folgte dem Indianer über die Treppe aus Holzbohlen zur Tür. Mit einer Hand hielt sie sich am abgegriffenen Geländer fest. Jem Soonias offene Ablehnung verunsicherte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie fühlte sich unwohl, konnte aber das Indianerdorf nicht verlassen, bevor sie ihre Aufgabe erledigt hatte. Sonst würde Robert Lee sie noch einmal hierher schicken und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.
„Haben Sie eine Partnerin, Mr Soonias? Jemanden, der bei Stevie in den vergangenen Jahren die Mutterrolle übernommen hat?“
Jem wandte sich um und betrachtete Canyon von oben herab. Er blinzelte gegen das Licht der Abendsonne.
„Das geht Sie nichts an, Miss Toshiro“, sagte er. „Ich habe die Polizei verständigt, weil mein Sohn verschwunden ist. Und was passiert: Man hetzt mir das Jugendamt auf den Hals.“ Unbewusst drohte er ihr mit der Faust. „Ich bin Lehrer, verdammt noch mal. Ich arbeite mit Kindern und lasse sie nicht verschwinden.“ Er wandte sich um, klappte das Fliegengitter zurück und öffnete die Tür, die in der Regel unverschlossen blieb.
„Lassen Sie Ihr Haus immer offen stehen?“
Jem war kurz davor, Canyon mit harten Worten zum Schweigen zu bringen, oder schlimmer noch, ihr unmissverständlich klarzumachen, wie dämlich er sie fand. Aus ihrem Mund waren bisher nur Fragen gekommen, die zugleich auch Vorwürfe waren. Er bückte sich und zog seine Halbstiefel aus. Nutzte die Zeit, um seinen Zorn zu bändigen.
„Hat diese Frage auch etwas mit Stevies Verschwinden zu tun?“
„Ja“, meinte sie. „Irgendwie schon.“
Jem seufzte. „Aber er ist da draußen verschwunden und nicht aus diesem Haus entführt worden.“ Seine Geduld war am Ende und er wurde von einer tiefen Niedergeschlagenheit erfasst. Jem hatte dieser Frau und ihren Fragen nichts mehr entgegenzusetzen.
„Sie glauben, er wurde entführt?“
Er hob die Arme zu einer ratlosen Geste. „Eine andere Erklärung habe ich nicht. Stevie war am Vormittag draußen in seiner Höhle, zumindest hat er mir das so gesagt. Er sollte gegen 12 Uhr zu Hause sein, wir wollten zusammen bei meinen Eltern essen. Um 14 Uhr hätte die Kinovorstellung begonnen.“
Die Tür zu Stevies Zimmer stand offen. Er ging hinein und knipste das Licht an. „Als Stevie um 14 Uhr immer noch nicht zu Hause war, fing ich an mir Sorgen zu machen und bin raus zur Höhle gefahren. Ich habe überall nach ihm gesucht, aber er war nicht da. Nirgends. Sein Fahrrad auch nicht. Da habe ich Miles Kirby in seiner Dienststelle in Nipigon angerufen.“
„Und Sie haben nicht ein einziges Mal in Erwägung gezogen, dass Ihr Sohn sich verlaufen haben könnte?“
„Natürlich habe ich daran gedacht. Aber Stevie kennt sich bestens aus da draußen. Er hat sich noch nie verlaufen. Und er hätte wohl kaum sein Fahrrad mit in den Busch genommen.“
Canyon nickte, als würde sie ihm mit dieser Überlegung recht geben. Auch sie schlüpfte aus ihren Schuhen, doch als sie feststellte, dass ihre Füße schwärzer waren als die Sohlen ihrer Slipper, zog sie sie schnell wieder an. Wenn alles nicht so furchtbar gewesen wäre, hätte Jem darüber lachen können.
Canyon war schon in unzähligen Kinderzimmern gewesen und die meisten hatten eines gemein: Die kreative Unordnung, mit der Kinder ihr eigenes Reich zu verzaubern wussten. Stevies Zimmer war eine Räuberhöhle und sein Sinn für Ordnung entsprach dem eines normalen neunjährigen Jungen. Kleidungsstücke lagen wahllos verstreut auf zwei Stühlen und auf dem Bett an der Wand.
Auf dem Bett, das zur Hälfte von einem bunten Star-Quilt bedeckt war, lagen auch noch andere Sachen: verschieden große, seltsam geformte Steine, ein Vogelnest, gefüllt mit schillernden Glasmurmeln und ein Paar neue Turnschuhe. Unter dem Kopfkissen lugte der gestreifte Schwanz eines Plüschwaschbären hervor.
Die übrige Einrichtung des Zimmers bestand aus einem abgeschabten Sessel, einem Bücherregal und einem Kleiderschrank, der offen stand. Das Chaos in seinem Inneren war Canyon kein ungewohnter Anblick. Sie lächelte in sich hinein. Wenn Jem Soonias davon überzeugt sein sollte, dass die Unordnung im Kinderzimmer ihm Minuspunkte als Vater einbringen würde, so irrte er. Dies war ein reiner Männerhaushalt, der gut funktionierte, das würde sie in ihrem Bericht berücksichtigen.
Und doch war das Zimmer dieses Jungen anders als jene, die sie bisher gesehen hatte. Keine Plakate mit Popstars an den Wänden, keine Konterfeis von Baseballhelden. Dafür eine große Landkarte der Provinz Ontario, auf der einige Gebiete mit einem Rotstift besonders hervorgehoben waren. Nirgendwo Kriegsspielzeug aus Plastik, kein Nintendo. Dafür waren Stevies Schreibtisch und das Regal darüber angefüllt mit Dingen, die jede Mutter zur Verzweiflung getrieben hätten und irgendwann dem Hausputz zum Opfer gefallen wären: ein Marmeladenglas