Früher hatte Kokkaline diese Augen gefürchtet. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft der Stock der Herrin auf ihrem Rücken getanzt hatte, wie oft sie danach die Striemen in ihrem Fleisch mit kühlenden Salben behandelt hatte; sie konnte sich nicht mehr entsinnen, wie oft Thratta nachts weinend neben ihr auf der Strohmatte gelegen hatte. Vor allem sie hatte unter der Unberechenbarkeit der Herrin gelitten – der Herrin, die sie so sehr geliebt hatte, aber von der eine Sklavin kaum Gegenliebe erwarten durfte. Trotzdem waren sie miteinander verwachsen – die beiden Sklavinnen und die Herrin. Sie waren wie knorriges Wurzelholz, ineinander verschlungen, verknotet und verhärtet. Sie teilten Geheimnisse und fast ein ganzes Menschenleben.
Die Herrin streckte ihre trockene Hand aus. „Thratta ... habe ich dich zu oft geschlagen und zu schlecht behandelt? Ich meine, dass es wohl so gewesen ist.“
Thratta, obwohl selber bereits über sechzig Jahre alt, zog die Nase hoch wie ein Kind und schüttelte den Kopf. „Nein, Herrin! Du warst gerecht, nie hast du mich mehr geschlagen, als es für eine Sklavin gemäß ist.“
„Lügnerin“, antwortete die Herrin sanft, und aus Thrattas Augen begannen die Tränen zu laufen. „Mancher Hund hat in seinem Leben weniger Schläge abbekommen als du. Ich bedauere das sehr. Du hast mir stets treu gedient. Aber mein Blut war heiß und leidenschaftlich, sodass jeder, der mir nahestand, sich an mir verbrannte.“
„Ich habe dich immer verehrt und geliebt Herrin. Ich habe dir gerne gedient.“ Thrattas Stimme wurde brüchig. Sie konnte ihren Kummer nicht mehr verbergen.
„Das weiß ich ja, Thratta. Arme kleine Thratta! Es sind immer die mit den reinsten Herzen, denen wir Leid zufügen.“ Ihre Augen schienen abzuschweifen, weit in die Vergangenheit zu reisen. Dann wandte sie sich an Kokkaline, die ruhig und gefasst neben Thratta saß. Ihre braunen Augen fixierten die Sklavin mit jenem forschenden Blick, der früher oft eine Strafe angekündigt hatte. „Kokkaline, du warst anders als Thratta, doch ebenso treu. Thratta schlug ich, weil ich ihre Gutherzigkeit kaum ertragen konnte. Dich jedoch, Kokkaline, strafte ich für deinen Stolz, für deine ruhige besonnene Art und die Anmut, welche eine Sklavin nicht haben darf. Du, meine stolze und starke Kokkaline, hast mich stets daran erinnert, wie unvollkommen und ungeschliffen mein Herz war. Mein ganzes Leben habe ich danach gestrebt, eine freie Frau zu sein und meine Schande zu tilgen. Doch tief in mir wusste ich, dass jenes Leben, das mein Schicksal war, mir gut zu Gesicht stand. Ich verabscheute seine Lasterhaftigkeit ebenso, wie ich seine Vorzüge genoss.“
Kokkaline nahm die Hand ihrer Herrin und führte sie an ihre Wange. Auch sie war alt geworden, eine alte nutzlose Sklavin. Doch ihr Rücken war noch immer so gerade wie der eines jungen Mädchens. „Obwohl deine Hand mich oft geschlagen hat, hadere ich nicht mit meinem Leben. Es war erfüllt.“
„Ja, Kokkaline“, flüsterte die Herrin mit einem Lächeln. „Auch dies ist ein Grund für die harte Behandlung - deine Zufriedenheit, dein festes Herz, deine Bescheidenheit, mit dem glücklich zu sein, was dir das Leben schenkte. Ich war immer unzufrieden. Was ich auch bekam – ich verlangte stets nach mehr. Ich neidete dir dein Talent zum Glücklichsein.“ Der aufkommende Husten der Herrin erinnerte Kokkaline an das Bellen eines alten Straßenhundes. Thratta beeilte sich, der Herrin eine Schale mit Wasser an die Lippen zu halten. Nachdem die Herrin einen Schluck getrunken hatte, ließ sie sich zurück auf ihr Lager sinken. „Vielen Menschen habe ich Leid zugefügt – einige hatten es verdient, andere nicht. Jene, die es nicht verdient hatten, kann ich nicht um Verzeihung bitten, da sie bereits den Styx überquert haben. Meine arme Tochter Phano, die ein Opfer meiner Selbstsucht wurde, und Stephanos, den Mann, den ich innig geliebt habe, obwohl er mich einmal aus Schwäche verraten hat. Dies sind die beiden Menschen, um derentwillen ich Reue empfinde. Die Anderen“, nun zeigte sich auf dem von Alter und Krankheit gezeichneten Gesicht der Herrin ein Lächeln, wie es früher oft gewesen war, wenn sie meinte, einen Sieg errungen zu haben. „Die Anderen habe ich nie in mein Herz sehen lassen! Wie habe ich sie an der Nase herumgeführt, diese unbescholtenen Bürger Athens, die so gut und gerecht taten und ihre gierigen Gelüste in jene Häuser trugen, in die zuerst Nikarete und später Phrynion mich brachte. Um sie tut es mir nicht leid, um keinen Einzigen von ihnen! Wenn ich es vermocht hätte, so wären sie allesamt in den Tartaros gestürzt worden und ihre Taten vor den Göttern offenbart. Doch was vermag eine Frau auszurichten in dieser Welt der Männer? Ich habe mein Bestes getan!“ Erneut schüttelte sie der Husten. Kokkaline hob den Kopf der Herrin an, während Thratta ihr die Trinkschale an die Lippen hielt. Nur langsam schien die Herrin sich zu beruhigen. „Auch ihr kennt sie, diese feinen Bürger Athens.“ Sie suchte mit fiebrigen Augen die Zustimmung ihrer Sklavinnen. Thratta und Kokkaline nickten stumm. „Ja“, flüsterte die Herrin heiser. „Ihr wart stets an meiner Seite, und doch wisst ihr nicht wie es dazu kam, dass ich die Frau wurde, die ich bin. Ihr wisst nicht, woher meine Herzenskälte rührt. Deshalb will ich euch meine Geschichte erzählen, bevor ich sterbe und euch die Freiheit schenke. Es wird nur einen Tag dauern, nur so lange bis die Sonne untergeht. Obwohl ihr mich verlassen könnt, da ich euch in diesem Augenblick die Freiheit schenke, hoffe ich, dass ihr mir diesen letzten Dienst erweisen werdet.“ Sie machte eine Pause und sah die Sklavinnen bittend an. Es war Kokkaline, die ihr antwortete. „Wir bleiben bei dir, bis du den Styx überquert hast. Wir würden auch bei dir bleiben, wenn der Fährmann dir weitere Jahre gewährt. Was bedeutet die Freiheit schon für uns, die wir alt sind?“ Kokkalines blaue Augen vergossen keine Tränen, doch sie trauerte im Angesicht des Abschieds, der unzweifelhaft bevorstand. Gewiss, die Herrin war streng gewesen und hatte sie oft geschlagen. Doch was machte das schon. Die Hände der Herrin waren nicht so hart gewesen wie die der Herren, welche sie mitunter auch geschlagen hatten.
Die Blicke der Herrin wanderten über die weiß gekälkte Decke des Raumes. Sie suchte nach einer Tür in ihrem Geist, die es aufzustoßen galt, um den Staub der Jahre und des Vergessens von ihren Erinnerungen zu nehmen. Als sie dies gefunden hatte, atmete sie tief durch. Ihre Stimme festigte sich mit den ersten Worten, so als wäre die Herrin zurückgekehrt in eine Zeit, in der Schmerz für sie nur ein bloßes Wort ohne Bedeutung gewesen sein musste.
„Ich muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als ich an der Hand meiner Mutter nach Korinth kam ... sechs Jahre, aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich weiß noch nicht einmal, wie die Polis hieß, in der ich mit meiner Mutter lebte, noch weiß ich, wer mein Vater war ... ich wusste damals auch nicht, warum meine Mutter mit mir nach Korinth kam. Heute weiß ich es – damals staunte ich nur über diese große Stadt, in die mich meine Mutter mitgenommen hatte ... ich war ein staunendes Kind, das nichts Böses ahnte und kannte.“
1. Kapitel
50 Obolen für eine Kindheit
„Jetzt lass dich nicht ziehen wie ein Esel, und bleib nicht überall stehen“, beschwerte sich ihre Mutter, als Neaira den Akrobaten anstarrte, der sich eine brennende Fackel in den Rachen schob und diese mit einer Qualmwolke zum Erlöschen brachte. Sein Oberkörper glänzte vom Öl, um seine Hüften hatte er ein Tuch gewickelt. Es war ein heißer Sommertag, und Neaira hätte es ihm gerne gleichgetan und sich den durchgeschwitzten Chiton vom Leib gerissen. Als er die gelöschte Fackel zur Seite warf und Neairas Mutter entdeckte, setzte er ein freches Grinsen auf und vollführte ein paar kreisende Bewegungen mit dem Becken. Unvermittelt zog die Mutter Neaira weiter, ohne dass das Mädchen etwas von den Anzüglichkeiten des Mannes verstanden hätte. Für Neaira war alles in Korinth neu und aufregend, während sie sich von ihrer Mutter durch die Straßen ziehen ließ. Der Lärm der Stimmen, die vielen Menschen auf der Agora in ihren farbenfrohen oder weißen Chitonen, die Mäntel der edlen Herren in tiefem Rot oder Purpur, die Sklaven in ihren kurzen Chitonen, welche ihrem Stand gemäß die rechte Schulter unbedeckt ließen. All die verschiedenen Gerüche, welche aus den Garküchen und von den Verkaufständen und Läden her in ihre Nase zogen oder die großen Gebäude mit den hohen Säulen und eben jene Straßenkünstler und Akrobaten, die auf der Agora ihre Kunststücke darboten, brachten Neaira zum