Die Hütte war dunkel, Peter hatte noch kein Licht gemacht. Vor der Tür stand die Ziege und kaute geruhsam an ihrem Strick.
„Lotte!“, rief Sibil und fiel dem Tier um den Hals, das zutraulich seine Nase in ihre Armbeuge steckte. Für einen Augenblick wirkte Sibil wieder sehr kindlich, wie das kleine Mädchen, das sie noch vor zwei Sommern gewesen war.
„Ein Glück“, sagte Katharina und stemmte die Tür auf, die von einer Schneewehe blockiert wurde.
„Schnell rein mit dem Tier. Wir binden sie drinnen an. Das darf nicht noch einmal passieren.“
In der Hütte war es kalt. Peter schnarchte hörbar auf der Schlafstatt. Katharina legte einen Finger auf die Lippen. Sibil nickte. Genau wie Katharina selbst zitterte sie am ganzen Leib vor Kälte.
„Zieh die nassen Kleider aus“, flüsterte Katharina, „du holst dir sonst den Tod.“ Sie zündete die Kerze auf dem Tisch an und begann ihrerseits, sich die schweren, nassen Kleider vom Leib zu ziehen. Die Aufregung hatte sie nicht bemerken lassen, wie sehr sie ausgekühlt war. Eilig entzündete sie ein Feuer in der gemauerten Feuerstelle. Sie sparte mit dem Holz, doch wenigstens ein bisschen Wärme musste sein, sonst würde keiner von ihnen den nächsten Morgen sehen. Sibil stand noch immer wie angewachsen und rührte sich nicht. Ihr Gesicht war weiß und immer noch von Panik gezeichnet. Unsanft schälte Katharina sie aus Umhang, Überwurf und Hemd, bis das Mädchen nackt und zitternd vor ihr stand. Dann scheuchte sie sie auf die Schlafstatt unter die Decken, zog sich selbst das Hemd vom Leib und rutschte nackt neben das Mädchen unter die Felldecke. Sie presste den eigenen kalten Körper gegen den des Mädchens und wartete auf die Wärme. Langsam hörte Sibil auf zu zittern. Das Feuer in der Feuerstelle gewann an Kraft. Die Wärme und die überstandene Aufregung machten Katharina schläfrig. Dann bewegte sich Peter und drehte sich grunzend auf die andere Seite, und plötzlich wurde Sibil in Katharinas Armen steif.
„Da seid ihr ja, meine Hübschen.“ Peters Gesicht erhob sich hinter Sibils weißer Schulter. Sibil zuckte zusammen und presste sich gegen Katharina. Das Blut war auf Peters Gesicht getrocknet. Seine Haare standen ihm wild und struppig vom Kopf ab, und er schien sich einen Zahn ausgeschlagen zu haben, denn sein Grinsen war fremd und beängstigend. Es klatschte, und Sibil quietschte auf. Mit schreckgeweiteten Augen klammerte sie sich an Katharina, während Peter die Felldecken wegschob und den nackten Körper des Mädchens entblößte. Er selbst war nackt, schmutzig, voller Kratzer und blutverschmiert – wie jemand, der sich durch ein Gestrüpp gekämpft hatte – und seine Männlichkeit stand pulsierend von seinem Körper ab.
„Ein echtes Weibchen ist sie geworden, die Kleine“, grinste Peter dreckig und begrapschte die zarten Brüste des Mädchens. Sibil schrie und wand sich, aber Peter packte erbarmungslos zu, warf sie auf den Bauch und drückte sie in die Kissen.
„Wehr dich nicht“, sagte Katharina tonlos. „Schrei nicht. Du machst es nur schlimmer.“ Peter zwängte Sibils Schenkel auseinander, legte sich auf sie, wobei er das Mädchen beinahe erstickte, und drang in sie ein. Sibils Augen waren weit aufgerissen, sie biss sich auf die Lippe, bis sie blutete, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Peter stieß sie heftig und ergoss sich schließlich grunzend und zuckend in sie. Über Sibils Wangen strömten Tränen.
Jetzt ist das Elend bei dir angekommen, dachte Katharina. Armes Mädchen. Wenn wir das Frühjahr erleben, nehme ich dich mit.
7. Kapitel
Herbst 2012, Frankfurt am Main
«Und? Hat er's dir ordentlich besorgt?»
Es dauerte nur zwei Tage, bis mir klar wurde, dass meine Sorge berechtigt war.
Hallo Anna, kennst mich noch? Bald werden wir uns wiedersehen.
Gruß, ein Freund von früher.
Ich starrte auf die SMS, während mir ein kalter Schauer über den Rücken kroch. Natürlich konnte das ganz harmlos sein, ich kannte schließlich eine Menge Leute und war auch schon einige Jahre als Anna Stubbe unterwegs. Trotzdem glaubte ich nicht, dass diese SMS von einem Freund stammte – oder, dass ich mich über das Wiedersehen sonderlich freuen würde.
„Hallo? Anna?“ Alexa wedelte mit einer Eintrittskarte unter meiner Nase herum.
„Hast du jetzt Lust, mitzugehen, oder nicht?“
„Hmh?“ Sie ließ die Karte sinken.
„Ist etwas passiert? Schlechte Nachrichten?“ Ich steckte mein Handy weg.
„Nein, alles gut. Und ich gehe gerne mit zum Konzert.“ Während ich eine Vorlesung, die mich eigentlich interessierte, teilnahmslos über meinen Kopf hinweg spülen ließ, versuchte ich, eine Entscheidung zu treffen. Untertauchen, sagte die Vernunft. Wenn er es ist, den ich vermute, dann kommt er nicht allein. Und du, du bist schon seit ein paar Jahrhunderten ohne Rudel unterwegs. Also pack deine Sachen, besorg dir neue Papiere und verschwinde. Neuseeland kennst du noch nicht, und dein Englisch ist ganz passabel. Das Herz hielt mit einem einzigen Gedanken dagegen: Sam!
Ich rief die SMS des "Freundes von früher" auf und drückte kurz entschlossen den grünen Knopf. Keiner ging ran. Nach dem fünften oder sechsten Freizeichen legte ich wieder auf. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Wir waren uns irgendwann Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zuletzt begegnet. Es hatte uns beide beinahe das Leben gekostet. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass einer der beiden Weltkriege ihn inzwischen erledigt hatte. Aber vielleicht hatte ich mich auch nur zu gut versteckt. Ich war unvorsichtig geworden. Freundschaften, Facebook... ein normales Leben einer normalen jungen Frau, die ich nie gewesen war. Ich packte das Handy weg. In meiner Tasche knisterte die Eintrittskarte. Eine junge Rockband, die in der Aula der Universität spielte. Sam und Alexa gingen hin, und ich fand es süß von ihnen, dass sie mich mitnahmen.
Alexa war ein Problem. Ich mochte sie viel zu gerne, um ihr den Freund auszuspannen. Doch als mich zuletzt ein Mann so berührt hatte, hatte ich noch auf Stroh geschlafen und den Pferdefuhrwerken gelauscht, wie sie sich durch schlammige Straßen mühten. Wollte ich wirklich verzichten? Wie eingesperrte Tiere liefen die Gedanken in meinem Kopf im Kreis. Ich hielt durch, bis es dunkel war, dann nahm ich mir die einzige Freiheit, die mir immer blieb. Ich fuhr mit dem Porsche in den Taunus, dorthin, wo die Wälder still und dunkel sind, und ließ die Wölfin rennen.
Als ich am frühen Morgen nach Hause kam, war ich zu müde, um nachzudenken. Meine Sinne waren noch geschärft, und so roch ich Sams Anwesenheit in der Wohnung gegenüber. Ich roch seinen Schweiß, ein billiges Duschgel und Sex. Der Geruch schlang sich um Alexas Geruch, der mich immer ein wenig an Kaffee und Schokolade erinnerte. Sie passten gut zusammen, die beiden Gerüche. Ich ging in meine leere, halb eingerichtete Wohnung und legte mich schlafen.
Als ich aufwachte, hatte ich eine SMS.
Ich weiß, wo du wohnst.
Ich starrte auf das Display. Eigentlich wäre es an der Zeit, die Polizei zu rufen, aber wie ich die kannte, unternähme sie nichts, ehe ich nicht zu Schaden gekommen war, und meine gefälschten Papiere waren zwar gut, aber nicht unfehlbar. Zu viel Risiko also für zu wenig Rendite. Umziehen? Würde nicht genügen. Wenn, dann komplett untertauchen, und dazu war ich nicht bereit. Himmel noch mal, ich war gerade in diesem Leben angekommen, hatte noch nicht mal alle Kisten ausgepackt! Ich wollte mich nicht von einem Phantom ans andere Ende der Welt jagen lassen.
Ich duschte und ließ mir einen Kaffee aus meinem futuristischen, silbrig blinkenden Vollautomaten, in einen Becher ein. Ich konnte mich noch gut an meine allererste Tasse Kaffee erinnern. Irgendwann Ende des siebzehnten Jahrhunderts musste das gewesen sein. Was für eine fürchterliche Plörre im Vergleich zu dem, was meine Zaubermaschine heute ausspuckte, aber ich war von der ersten Sekunde an süchtig gewesen. Ich verbrachte den Tag mit Kaffee, Fernsehtalkshows und ein paar Fachbüchern, die man uns Erstsemestern zur Lektüre dringend empfohlen hatte, doch nichts fesselte meine Aufmerksamkeit wirklich. Gegen Abend begann ich, mich für das Konzert