In der Dunkelheit hörte Katharina Sibil leise schluchzen. Das Balg hatte Mutter und Vater verloren – die eine bei der Totgeburt eines Geschwisterchens, den anderen an den Satan. Katharina war überzeugt davon, dass der Gehörnte seine Finger im Spiel hatte. Peter war auf seine einfältige Art ein guter Mann gewesen. So einer verwandelte sich nicht von heute auf morgen in ein Tier, wenn nicht ein böser Zauber auf ihm lag. Katharina fragte sich, ob der Zauber auch auf sie übergesprungen war. Immerhin hatte sie Peters Samen oft genug in sich aufgenommen. Wäre sie die nächste, die dem Übel anheimfiel?
„Wir müssen etwas unternehmen“, sagte sie entschieden. „Weg sein, bevor der Peter wiederkommt.“
„Aber wie?“, schluchzte Sibil. „Wir haben es versucht!“ Anklagend hielt sie ihr die blutig zerkratzten Hände hin, die von einem Ausbruchsversuch durchs Fenster zeugten. Katharina stürzte den schweren Tisch um, griff nach dem Holzbeil und schlug mit einigen ungeschickten Schlägen ein Tischbein ab.
„Hier.“ Sie hielt es Sibil entgegen, die es verständnislos ergriff. Katharina humpelte zur Hintertür. Durch den Türspalt über dem Lehmboden drang Tageslicht. Mit der Fußspitze scharrte sie auf dem Lehm.
„Wir graben uns nach draußen.“
„Wie meinst du...?“
„Hier. Unter der Tür durch. Das ist die einzige Möglichkeit, hinauszukommen. Los! Was stehst du und gaffst! An die Arbeit!“ Zögernd kam Sibil zu ihr, ließ sich auf die Knie nieder und begann, mit dem Tischbein in der Erde zu kratzen. Katharina hieb ein zweites Tischbein für sich selbst ab und half ihr. Jede Bewegung schickte einen stechenden Schmerz durch ihre Brust, und innerlich verfluchte sie Peter, wünschte ihm jedes grausame Schicksal, das sie sich nur ausmalen konnte.
Es dauerte ewig. Der Boden war durch unzählige Füße festgetrampelt, und sie mussten die harte Erde, Schicht für Schicht abkratzen. Nur langsam wurde der Spalt unter der Hintertür breiter. Sie scharrten und hebelten mit ihren Stöcken und gönnten sich keine Pause. Stunden vergingen. Das Heulen der Wölfe kam näher und verebbte dann wieder im Wald. Das Licht, das durch den Spalt drang, wurde dünner. Irgendwann legte Sibil sich auf den Bauch und steckte die Hand durch den Spalt, um auf der Außenseite arbeiten zu können. Mittlerweile war ihr Fluchtversuch kaum mehr zu verstecken. Katharina wusste, dass es ihr Ende bedeuten konnte, wenn Peter zurückkam, bevor sie weg waren. Auch Sibil schien das zu wissen. Sie arbeitete mit unermüdlichem Eifer und hochroten Wangen.
Die Sonne war bereits untergegangen, als sie einen ersten Versuch wagten. Sibil wand sich unter der Hintertür hindurch und steckte den Kopf ins Freie. Katharina schob von innen und zupfte Sibils Kittel zurecht, wenn sie mit dem Stoff irgendwo hängen blieb. Sibils Schultern verschwanden, dann ihr Oberkörper, ihr knochiges Hinterteil und zum Schluss ihre zappelnden Beine.Völlig erschöpft lehnte Katharina sich an die Hintertür. Sie musste es erst gar nicht versuchen: Sie war zu groß und zu schwer. Sie passte nicht durch den Spalt, und die Schmerzen im Brustkorb brachten sie um, auch ohne dass sie sich durch ein enges Loch quetschte.
Sie streckte die Hand ins Freie und spürte, wie Sibil nach ihr griff.
„Lauf zum Müller“, sagte sie. „Grüß ihn von mir. Ich war im Herbst ein paarmal bei ihm, um Mehl zu bekommen. Ich glaube, er hat mich in guter Erinnerung. Er soll Leute schicken, die mich hier rausholen. Und er soll den Peter wegen Hexerei beim Büttel anzeigen. Jetzt lauf! Beeil dich!“
„Ich komme zurück“, hörte sie Sibils tränenerstickte Stimme. „So schnell ich kann. Versprochen!“
„Jetzt red nicht! Lauf!“
Sie hörte, wie Sibils rasche Schritte sich entfernten. Jeder Atemzug schmerzte. Katharina dachte an Peter, diese abscheuliche Ausgeburt der Hölle, seinen stinkenden Atem, den leeren Blick, den Sabber, der ihm in Fäden aus dem Mund lief, wenn er sie fickte. Die abgebrochenen, dreckigen Fingernägel, die er in ihr empfindliches Fleisch bohrte. Das zahnlose Grinsen. Satan konnte ihn haben. Aber erst, wenn sie mit ihm fertig war. Sie umfasste das Tischbein fester und begann, das Loch zu vergrößern.
Der Müller staunte nicht schlecht, als das kleine Ding vom Stubbehof plötzlich an seiner Tür auftauchte, blutig zerkratzt, mit einem bösen, halb verheilten Schnitt quer über der Wange und Rotz zu Wasser heulend.
„Ihr müsst uns helfen“, schluchzte sie. „Der Vater ist von Teufel besessen, und die Katharina ist eingesperrt und kommt nicht raus, und wenn er kommt und sieht, dass ich nicht da bin, bringt er sie bestimmt um!“
„Was redest du da für einen Unsinn? Was soll ich helfen? Mit deinem Vater habe ich nichts zu schaffen!“
„Die Katharina hat gesagt, Ihr werdet uns helfen...“ Der Müller betrachtete das Häuflein Elend, das zitternd vor ihm stand.
„Vom Teufel besessen, sagst du?“
„Ja, den Vater hat der Teufel geholt!“
Wie sie sich drüben im Mahlraum ausgezogen hatte, zwischen den Säcken, splitternackt. Wie sie zu ihm gekommen war, um sich an ihm zu reiben. Mit ihren schweren, großen Brüsten. Wie sie ihn berührt hatte und ihm zu Willen gewesen war auf eine Art, die ihm das letzte bisschen Verstand aus dem Schädel gesaugt hatte. Dreimal war sie hier gewesen und hatte sich mit einem Beutel Mehl für ihre Dienste bezahlen lassen. Das schönste Weib in der Umgebung. Dann war der Knecht mit der Hand ins Mahlwerk geraten. Die Fäulnis hatte das Korn gefressen, die Mäuse den Rest. Die Frau hatte angefangen zu husten und hörte nicht mehr damit auf, und der Hexenschuss war in den Rücken des Müllers gefahren und verleidete ihm jede Bewegung.
Das lüsterne Weib hatte ihn verhext, so wie sie den Stubbe Peter verhext hatte. Wenn er nicht enden wollte wie der verrückte Stubbe, so musste er schleunigst etwas tun, um seine Seele zu reinigen.
Er setzte ein falsches Lächeln auf. „Komm erst mal rein, Kleine“, sagte er. „Du bist ja völlig erschöpft. Keine Sorge, ich kümmere mich um alles.“
Noch in der gleichen Nacht brachen die Büttel die Tür zu Stubbes Hütte auf und nahmen Katharina mit.
9. Kapitel
Herbst 2012, Frankfurt am Main
«Nicht Samuel. Das würde der nie tun»
Ich schlief schlecht in dieser Nacht, war unruhig und verwirrt. Die SMS ängstigten mich, aber dann wieder nicht so sehr, wie der Sender es vielleicht beabsichtigt hatte. Er war wie ein Schatten aus vergangenen Tagen. Mein viel größeres Problem wohnte auf der anderen Seite des Hausflurs.
Nach einigen Stunden voller quälender Träume und Grübeleien stieg ich aus dem Bett und kochte Kaffee. Während die Maschine aufheizte, genoss ich die Tatsache, dass der Mensch mittlerweile tatsächlich in der Lage war, es sich egal zu welcher Uhrzeit taghell zu machen. Wie hatten wir nur damals die langen Winternächte herumgebracht, dreizehn, vierzehn Stunden Dunkelheit am Stück, kaum durchbrochen von kleinen, flackernden Kerzen und Talglampen?
Dazu Kaffee, der auf Knopfdruck kam. Milch, die sich im Kühlschrank tagelang hielt. Wärme, die aus Heizkörpern strömte, ohne dass jemand Holz hacken musste. Fernsehen, das einem sogar das Denken abnahm.
Ich kuschelte mich mit meinem Kaffee aufs Sofa, zog meine Flauschdecke über mich und schaltete den Fernseher ein. Es war morgens um halb vier, da konnte man nicht viel erwarten. Nachrichten, Softpornos, Talkshows. Alte Filme. Ich blieb bei einem Heimatfilm aus den Fünfzigerjahren hängen, doch auch Berge und niedliche Zicklein konnten mich nicht von meinem Problem auf der anderen Seite des Hausflures ablenken. Ich spürte noch Sams Hände auf meinem Rücken, seine Lippen auf meinen. Ich wusste noch, wie er schmeckte. So schnell würde ich das auch nicht vergessen. Sollte es das tatsächlich gewesen sein? Ein Ausrutscher, über den man nie wieder sprach? Es hatte da diesen Augenblick gegeben, draußen auf dem dunklen Unigelände, da war er unsicher gewesen. Vermutlich hätte ich ihn in diesem