„Was ist denn der Plan?“
„Abwarten.“
Ich stöhnte. „Und wie lange?“
„Weiß ich nicht, Anna. Der Orden arbeitet an dem Problem und holt sich Verstärkung. Es ist nur... niemand war wirklich auf diese Ereignisse vorbereitet. In Deutschland hat es seit dreißig Jahren keinen Vorfall mehr gegeben. Viele Wächter sind alt, und sie haben es versäumt, sich um die Nachfolge zu kümmern.“
„Oder sie sind ausgestiegen, wie dein Vater.“
„Genau. Jedenfalls haben wir Kontakt mit den Venatio in England aufgenommen, und es gibt auch eine kleine Gruppe irgendwo hinter der deutsch-französischen Grenze. Wir stehen nicht alleine da, aber sonderlich gut aufgestellt sind wir leider trotzdem nicht.“
„Wann sehe ich dich?“
„Sobald ich herausgefunden habe, wohin sie dich gebracht haben.“
„Sachsenhausen. Ein Haus mit ziemlich zugewuchertem Garten und hohen Hecken. Nach hinten raus hat es einen Anbau.“
„Das könnte dort überall sein.“
„Sag deinem Vater, ich laufe Amok, wenn ich nicht ein bisschen Gesellschaft bekomme!“
„Ich tue, was ich kann. Ich muss Schluss machen. Bis bald, Anna.“
„Bis bald.“ Ich drückte auf den kleinen roten Knopf und nahm das Handy mit vor den Computer. Im Internet rief ich nach dem Zufallsprinzip Landkarten auf und zoomte mich ran, bis einzelne Orte erkennbar wurden.
Asien, Thailand, Lat Yao. Dort war es jetzt bereits Abend. Die Bilder zeigten eine typische thailändische Bezirkshauptstadt: staubige Straßen, klapprige Kleinlaster, Palmen und das irritierende Nebeneinander von hohen Glaspalästen und einfachen Hütten.
Doch lieber irgendwo am Meer. Ich suchte auf der Karte die kleine Inselkette entlang der thailändischen Küste ab, bis ich nach Vietnam kam, dann wieder zurück. Ko Chang im Golf von Thailand, die drittgrößte Insel, schneeweiße Strände, glasklares Wasser, Palmen, Wasserfälle und Korallenriffe im Meer vor der Küste. Ob die Wölfin sich dort wohlfühlen würde? Wenn ich schon das Land verlassen musste, so beschloss ich, dann richtig. Ich würde mich nicht in einem Ferienhäuschen in Dänemark verstecken und von September bis Mai vor mich hin frieren. Ich würde die schönsten Winkel der Welt besuchen. Ich googelte Amazonas. Im Laufe der vielen Jahre hatte ich mir sieben Sprachen angeeignet, Spanisch gehörte dazu. Thailändisch sprach ich noch nicht, aber dort würde ich mit Englisch ganz gut durchkommen. Ich hatte die Wahl. Die ganze Welt legte sich mir zu Füßen. Ich musste nur Sam aus meinem Kopf bekommen. Mein Leben war viel zu lang, um es nur im guten alten Europa zu verbringen. Ich legte mich aufs Sofa und umarmte Sams T-Shirt, das er mir für die Flucht geliehen hatte. Meine feine Wolfsnase spürte noch Reste seines Geruches darin. Obwohl ich wusste, dass es besser für alle war, wenn wir uns nicht sahen, liefen mir die Tränen über die Wangen. Ich legte mir eine DVD mit einem kitschigen Liebesfilm ein und weinte mich in den Schlaf.
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