„Es war wirklich nicht so schlimm. Ich weiß nicht, warum er so darauf reagiert.“
Viktor bedachte ihn mit einem abfälligen Blick und ich runzelte zweifelnd die Stirn. Immer mehr Blut rann aus den Augen des Boten.
„Normalerweise müsste es schon längst aufhören. Wir haben den Fluch schon lange gelöst“, meinte Ayaz, der seinem Bruder gefolgt war und dessen silbriger Blick wie erstarrt auf den Gefangenen gerichtet war.
Ich merkte, wie Viktors Wut zurückkehrte und hob die Hand. Sofort verstummten alle und ich reichte Viktor die Fackel. Vorsichtig streckte ich meine Hand nach dem Gesicht des Mannes aus und tauchte die Fingerspitzen in das Blut auf seinen Wangen. Meine schwarze Seele jubilierte und ich verspürte ein unglaubliches Gefühl der Macht in mir aufsteigen. Doch da war noch mehr. Etwas Unbekanntes, das sich kribbelnd meinen Fingerspitzen näherte und in mich eindrang.
„Hörst du mich?“
Die blutigen Augen des Boten schienen mich regelrecht zu durchdringen.
„Die weiße Hexe!“
Seine Antwort war nicht mehr als ein Krächzen, doch ich verstand ihn trotzdem. Die weiße Hexe! Es war nicht das erste Mal, dass ich es hörte. So nannten sie mich also. Ein Kind, das mit sieben Jahren in eine verlassene Burg verbannt worden war, war nun zu einer Hexe geworden. Es war das Gleiche, als wenn sie mich als Dämon bezeichnet hätten. Ich war weder das eine noch das andere.
„Was wolltest du am alten Wachposten? Wusstest du, dass ich noch am Leben bin?“
„Ihr seid für alle jenseits dieses Tals tot!“
„Was wolltest du dann dort?“
Eine innere Unruhe erfasste mich und das Kribbeln an meinen Fingern wurde immer stärker. Ich fühlte es durch das klebrige Blut hindurch, war jedoch viel zu gespannt auf die nächsten Worte des Mannes, um es weiter zu beachten.
„Ihr seid jedoch nicht für alle tot. Euer Bruder schickt mich, um euch eine Einladung zu überbringen.“
Mein Herzschlag stockte einen Augenblick, nur um danach schneller weiter zu schlagen.
Eine Einladung? Von meinem Bruder?
Der Mann vor mir begann zu röcheln und mit leichtem Schrecken sah ich, wie neues Blut aus seinem Mund sickerte. Was auch immer die beiden Zwillinge mit ihm angestellt hatten, es war schlimmer als sonst.
„Warum sollte mich mein Bruder einladen? Er weiß überhaupt nicht, ob ich noch lebe. Ich bin verbannt worden …“
„Die Verbannung wurde …“
Ich erstarrte und trat noch näher an ihn heran. Ich musste hören, was er sagen wollte.
Bitte ihr Götter! Lasst es mich mit meinen eigenen Ohren hören.
Leider erhörten die Götter nie meine Bitten.
Im selben Moment, als immer mehr Blut aus dem Mann herausfloss, nahm das Kribbeln an meinen Fingern zu. Sein qualvolles Röcheln ging in ein ersticktes Luftholen über und ich sah noch, bevor eine erdrückende Stille einsetzte, dass es sein letzter Atemzug war.
„Ysa geh von ihm weg. Ich spüre etwas an ihm, das nicht zu ihm gehört.“
Wie durch dichten Nebel hörte ich Rias Warnung, doch ich war noch immer zu geschockt von der Tatsache das ich die mir erhoffte Antwort nicht bekommen würde. Das Kribbeln, das sich weiter meinen Arm hinauf ausbreitete, nahm stetig zu, genauso wie das Blut, das noch immer aus dem Toten floss. Unnatürlich viel Blut.
„Ysa!“
„Meisterin!“
Von einem Moment zum Nächsten spürte ich einen harten Aufprall, der mich zu Boden riss. Ich landete ungebremst auf den harten Steinen und konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie sich eine Vielzahl von goldenen Fäden zu feinstem Nebel verwandelten. Dort wo ich soeben noch gestanden hatte, befand sich nun Zacharias. Seine Pfoten standen in einer frischen Blutlache, die sich immer weiter über den Boden hinweg ausbreitete. Der goldfarbene Nebel hüllte ihn ein und unbegreifliche Angst ergriff mich. Zacharias Gestalt verschwamm und ich hörte sein wütendes Knurren, das einen schmerzhaften Unterton annahm.
„Verdammt! Zacharias!“
Viktors donnernde Stimme hätte ausgereicht, um die Toten wiederzubeleben. Von einem Moment zum Nächsten war er an mir vorbei, packte Rias am Nackenfell und zog ihn aus dem goldenen Nebel. Rias landete genauso unsanft wie ich zuvor auf dem Boden neben mir. Doch im Gegensatz zu mir war er keinen Wimpernschlag später wieder auf den Beinen und knurrte nun Viktor wütend an.
„Rias!“
Ich krallte meine Hände in sein Fell und versuchte ihn zu beruhigen.
„Rias bitte! Beruhige dich. Viktor hat dich gerettet.“
„Ich habe ihn nicht darum gebeten!“
„Meisterin geht es euch gut?“
Viktor streckte mir die Hand entgegen und half mir hoch. Rias beachtete er nicht im Geringsten.
„Ja ich denke schon.“
„Meisterin!“
Ayaz und Kyran ergriffen meine Arme und hielten sich erschrocken rechts und links von mir fest. Der goldene Nebel vor uns zerstob und löste sich in einer stillen Warnung auf.
„Meisterin was war das?“, fragte Ayaz beunruhigt.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich leise und versuchte selbst mein noch immer laut hämmerndes Herz zu beruhigen.
Der Angriff, denn das war es mit Sicherheit, hatte mich überrumpelt. Noch nie war es vorgekommen, dass ich innerhalb Kassathors Mauern angegriffen worden war. Es war überhaupt noch nie vorgekommen.
Die schwarze Seele in mir drängte an die Oberfläche und ohne das ich es wollte strömte meine eigene, gefürchtete Magie aus mir hervor. Schwarz schillernde Fäden der Magie wirbelten um mich herum. Zweimal an einem Tag war neu. Es war auf jeden Fall einmal zu viel.
„Meisterin beruhigt euch!“
Die gleichen Worte, die ich soeben noch für Rias benutzt hatte.
„Ysa der Angriff ist vorüber. Es droht keine Gefahr mehr.“
Ich spürte die versteckte Angst in Viktors und Rias Worten und sie beflügelte mich ungemein. Meine Magie nahm zu, wurde stärker, dunkler, schwärzer.
„Meisterin!“
Viktors Warnung enthielt eine Drohung, die ich nur zu gut verstand. Meine helle Seele erhob ebenfalls ihre Stimme, doch sie war so leise, so unsagbar leise.
„Meisterin!“
Starke Hände packten mich an den Schultern und ich spürte Viktors Dämonensiegel, die sich von seinen Armen lösten und über seine Hände zu mir glitten.
„Wenn du die Dunkelheit begrüßen willst, dann nur zu, aber du solltest dir wirklich im Klaren darüber sein, was das für dieses Land und vor allem für dich bedeuten würde.“
Viktors Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Erschrocken riss ich mich von ihm los und taumelte zwei Schritte zurück, bis ich die kalte Steinwand in meinem Rücken spürte. Sofort war Rias an meiner Seite. Ich sank erschöpft auf meine Knie und vergrub mein Gesicht in seinem Fell. Meine schwarze Seele zog sich schmollend zurück und ich atmete erleichtert auf.
„Danke Viktor“, murmelte ich durch Rias Fell hindurch.
„Dafür bin ich da. Versteh mich nicht falsch Meisterin, eines Tages werde ich dich nicht aufhalten, aber irgendetwas sagt mir, dass jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“