Paul Mund stand so weit offen wie ein Scheunentor.
„Sieht echt chic aus, oder?“
„Allerdings. Aber wie hast du das geschafft?“
„Einzelheiten erspare ich uns lieber. Das ist uns beiden eine Nummer zu hoch. Fachchinesisch.“
Jerome war es gelungen, um die Pfeiler herum eine Wand zu ziehen. Und nun lief auf dieser äußeren Haut das Wasser herab wie bei einem Wasserfall. Es plätscherte nur so drauflos. Und in dem entstandenen Hohlraum, also zwischen Pfeiler und Außenhaut, wurde das Wasser hochgepumpt, um wieder in den Wasserfall zu fallen. Einfach, aber genial. Jerome konnte stolz darauf sein.
Fünf Minuten später waren sie wieder oben. Paul war mit Händeschütteln und Hallosagen so beschäftigt, dass er außer Atem geriet. Sogar Menschen, denen er vorher noch nie begegnet war (und das waren nicht wenige), reichte er die Flosse. Er tat es ohne Scheu, und das überraschte ihn. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie ihm die Hände fast ins Gesicht hielten, damit er sie greifen und schütteln konnte.
„Michael ist mein Name.“
„George.“
„Angenehm. Ich heiße Vivienne.“
„Hi. Ich bin der Mark.“
„Freut mich. Ich bin der Jonas.“
Und so ging es immer weiter, die Namen purzelten nur so auf ihn ein. Eine Hand zerschnitt auffordernd die Luft und wurde gleich darauf von einer anderen abgelöst. Paul hatte längst den Überblick verloren und wusste gar nicht mehr, wer wer war. Normalerweise fühlte er sich in solchen Situationen unwohl. In einer dichten Menschenansammlung bekam er immer etwas, was man schon fast als Panikattacke bezeichnen konnte. Seltsamerweise war das hier nicht der Fall. Heute fühlte er sich nicht unwohl. Im Gegenteil, er genoss es. „Hallihallohallöle“, schmetterte er jedem entgegen und trompetete lautstark: „Paul, der bin ich“ zu jedem, der es wissen wollte.
Jetzt war Jerome wieder zur Stelle und packte ihn am Handgelenk. Er war gespannt, wo er ihn diesmal hinführen würde.
„Ich muss schon sagen, deine Feier ist gut besucht.“ Paul musste laut sprechen, um gegen das Stimmengemurmel anzukommen.
„Da hast du verdammt recht, alter Junge. Es sind fast alle gekommen, die ich kenne. Unter uns gesagt: fast schon einige zu viel für mein bescheidenes Heim. Man kann ja keinen Schritt gehen, ohne jemandem auf die Füße zu treten. Weil wir gerade davon sprechen: Wo hast du denn Jeannine gelassen? Geht es ihr nicht gut?“
Ach, du Scheiße. Was nun? Da Paul auf die Schnelle nichts einfallen wollte, stotterte er ein verlegenes „Ähm … ähm“, während er fieberhaft nachdachte. Nun war die Kacke am Dampfen. Was sollte er antworten? Du bist ein Idiot, tadelte er sich. Du hast doch gewusst, dass das kommt! Warum hast du dich nicht darauf vorbereitet? Es hätte vollauf genügt, wenn du dir irgendeine glaubhafte Ausrede hättest einfallen lassen. Und nun druckst du hier rum und weißt weder ein noch aus. Schöne Scheiße!
Während er weitergrübelte, schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Jerome stoppte, und Paul hätte ihn fast umgerannt. Glücklicherweise schien Jerome nicht mehr auf eine Antwort zu warten. Etwas hatte ihn abgelenkt. Er führte sein Gesicht nah an seines heran, und einen Augenblick glaubte Paul, er wollte ihn küssen. Das war natürlich albern. Aber dennoch war er drauf und dran, ein Stück zurückzuweichen. Und da flüsterte Jerome ihm ins Ohr (und der Teufel soll mich holen, wenn da nicht eine gehörige Portion Ehrfurcht und Stolz mitschwang): „Sieh dir den Burschen da drüben an! Ich schwöre dir, der wird mal ein Großer.“
Paul tat, was von ihm verlangt wurde.
Ihm gegenüber stand ein Typ Anfang zwanzig. Fast noch ein Milchbubi. Seine Hosenbeine waren so dünn, als hätte er gar keine Beine darunter. Sein Pullover war rotschwarz kariert, dass einem die Augen schmerzten, wenn man ihn länger als zehn Sekunden betrachtete. Der magere Rest schien ebenso kräftig zu sein wie die nicht vorhandenen Beine. Nur der Kopf fiel aus der Reihe. Der war phänomenal. Wenn der liebe Herrgott am restlichen Körper gespart hatte, als es an den Kopf ging, musste er in Spendierlaune gewesen sein. Er war viel zu groß für den Rest. Die ganze Erscheinung erinnerte an eine Spaghetti, auf die man eine Wassermelone gesteckt hatte. Dazu schmückte feuerrotes Haar dieses Haupt, und in seinem Gesicht stritten sich Pickel und Sommersprossen um die Vorherrschaft. Der arme Kerl konnte einem leid tun, beendete Paul seine Schnelleinschätzung. Der Typ war ihm zuwider, und er machte keinen Hehl daraus.
„Wer ist das denn? Der sieht ja zum Fürchten aus!“
„Zugegeben, er ist ein bisschen eigentümlich, aber …“
„Eigentümlich? Ich würde eher hässlich sagen! Wenn mein Gesicht so aussehen würde, wäre ich schon längst mit dem Kopf voran in eine Kreissäge gerannt. Und der traurige Rest … da fehlen mir einfach die Worte.“
„Ich weiß ja, was du meinst. Aber schreiben kann der Bengel, Junge, Junge, du kriegst die Tür nicht zu! Der versteht es, die Leser zu fesseln!“
„Aha.“ Pauls Begeisterung hielt sich in Grenzen.
„Wenn ich’s dir sage! Ich hab sein Manuskript gefressen. Mehr als achthundert Seiten in weniger als drei Tagen. Hab kaum gepennt.“
Schon wieder kam von Paul nur ein „Aha“. Allerdings klang es jetzt anders. Er kannte Jerome und wusste, wie er tickte. Auch er, Paul, war damals von ihm entdeckt worden. Er hatte Pauls steinigen Weg zu einem Verlag geebnet. Ihm war es zu verdanken, dass sein erstes Buch gedruckt worden war. Der Erfolg mit der Schreiberei, diese Seite der Medaille, gehörte Paul selbst, aber überhaupt erst die Chance bekommen zu haben, das gehörte allein Jerome. Also musste an diesem Burschen wohl was dran sein …
„Na schön, du meinst also, er hat was auf dem Kasten, ja? Was ist denn sein Genre?“
„Fantasy. Genau wie deins.“
„Genau wie meins“, wiederholte Paul. Er konnte nicht erklären, warum, aber mochte diese picklige Bohnenstange nicht.
„Hat er schon was veröffentlicht?“
„Hat er.“
„Und was?“
Paul bekam mehr und mehr den Eindruck, dass er verarscht wurde. Warum rückte Jerome nicht mit der Sprache raus? Muss ich ihm denn alles bröckchenweise aus der Nase ziehen? Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu fahren. Er merkte, wie seine Laune sank. Das durfte er nicht zulassen. Mit zitternden Händen führte er die Zigarre zum Mund. Schon nach dem ersten Zug beruhigte sich sein Puls.
„Er hat Vogelkind geschrieben.“
„Is nich wahr! Ehrlich?“
Diesmal war die Verblüffung echt. Mit so was hatte er nicht gerechnet. „Vogelkind“ hatte er erst vor kurzem gelesen, und er hatte nicht ohne Neid anerkannt, dass es das beste Buch war, das er seit langem gelesen hatte. Er war sogar überzeugt gewesen, selbst nie so etwas Geniales, Spannendes, Urkomisches und Ergreifendes zustande zu bringen. Das hatte er natürlich für sich behalten.
„Dein Gesicht verrät mir, dass du es kennst.“
„Na hör mal! Es ist in allen Bestsellerlisten eingeschlagen wie eine Atombombe. Es hat alles andere hinter sich gelassen.“
„Das ist noch nicht alles. Das Beste kommt noch.“ Jerome sprach hastig. „Ich hab ihn meinem Konkurrenten vor der Nase weggeschnappt. Na gut, weggeschnappt ist nicht das richtige Wort. Er wollte ihn nicht publizieren. Hat den Wert dieser Perle nicht erkannt.“
„Bei dir war das natürlich anders. Stimmt’s, oder hab ich recht? Du hast es natürlich von Anfang an gewusst, nicht wahr?“
„Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass das nicht stimmt. Die ersten hundert Seiten mussten noch überarbeitet werden, und darum war ich auch noch skeptisch. Aber dann hat mich ein Feuer gepackt, das mich bis zum letzten Wort nicht mehr losgelassen hat. Ich war begeistert und sagte ihm noch am