Die Lautstärke war ohrenbetäubend. Der Bass dröhnte bis in seine Eingeweide, die Gitarren quietschten und quäkten, und die Boxen schienen von alldem überfordert zu sein. Obwohl er vermutete, davon hammermäßige Kopfschmerzen zu bekommen, fiel es Paul im Traum nicht ein, die Anlage leiser zu drehen. Die Musik musste mit brachialer Gewalt auf ihn wirken. Bis in jede Faser seines Körpers sollte sie dringen.
Eine halbe Stunde verging.
Und eine weitere.
Mittlerweile war die CD zu Ende, und er hatte AC-DC gegen Iron Maiden eingetauscht: „Seventh Son of a Seventh Son“. Seiner Meinung nach ein superhypergeiles Album. Er hatte das aus dem Jargon seiner Tochter aufgeschnappt; allerdings war für sie nur Popmusik superhypergeil.
Die ersten Töne waren kaum erklungen, da spürte er, wie sich etwas in ihm regte. Anfangs glaubte er, Blähungen zu bekommen, aber schon beim dritten Song begriff er, dass es keine Blähungen waren, sondern dass ihm einfach ein wenig wohler ums Herz wurde.
Paul tastete nach der Fernbedienung. Er wollte die Lautstärke noch mehr aufdrehen. Doch es stand bereits auf Maximum. Da das Ding unnütz war, flog es in die nächstbeste Ecke. Seine Stimmung wurde zusehends besser, und „Can I Play with Madness“ sang er schon lauthals mit. Dass er keine einzige Note halten konnte, störte ihn nicht. Und beim fünften Song ertappte er sich, wie er die „Jungfrauen“ auf einer unsichtbaren Gitarre begleitete. Da hielt es ihn nicht mehr im Sessel und er schnellte wie an einem Gummiband hoch.
Als das Telefon klingelte, hörte er es gar nicht. Er rannte durchs Zimmer wie über eine Bühne und kugelte sich auf dem Teppich, wobei er immer noch auf der unsichtbaren Gitarre spielte und den Text mitträllerte.
Mittlerweile war es dunkel. Paul stand im Bad und rasierte sich. Die untere Gesichtshälfte war unter Schaum begraben, dennoch hatte er es sich nicht nehmen lassen, eine Zigarette zu rauchen. Sie steckte zwischen seinen Lippen und qualmte um den Schaum herum. Langsam schabte er über die Bartstoppeln. Ratsch. Schab. Ratsch. Schab. Aus dem Badlautsprecher dudelte Musik. Diesmal aber leiser.
Nach der Rasur kam sein Grinsen wieder zum Vorschein. Er hielt kurz inne und betrachtete sich im Spiegel. Dann grinste er noch ein wenig breiter und schabte weiter. Wie schnell sich alles ändern konnte! Noch vor Tagen war ich der festen Überzeugung, eine glückliche Ehe zu führen. Tags darauf verlässt sie mich, wieder einen Tag später halte ich den Schmerz kaum aus, verliere fast den Verstand, und schließlich geht es mir wieder richtig gut. Blendend sogar.
Sein Gesicht war vom Schaum befreit, und er zeigte seinem Spiegelbild kampflustig die Zähne. Dieses tat es ihm sogleich nach, und Paul lachte es daraufhin frech an. Die rasierte Haut brannte, aber das war normal. Er klatschte sich Rasierwasser ins Gesicht, jaulte wie ein Hund und musterte sich im Spiegel.
Für einen Mann in seinem Alter sah er noch ganz passabel aus. Zugegeben, sein Bauch war runder geworden, die Haut hatte ein paar Fältchen, und wenn er sich eine Woche nicht rasierte, hatte er mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf. Trotzdem fühlte er sich noch jung.
„Und das ist schließlich die Hauptsache“, sagte er zu seinem Spiegelbild und das schien seiner Meinung zu sein, denn es tat nichts, was irgendeinen Protest andeutete. Es grinste ihn nur frech an.
Paul spülte das Gesicht, wischte den restlichen Schaum ab, steckte seinem Spiegelbild die Zunge raus, drehte sich um und verließ das Bad.
Der Porsche brummte über die dunkle Landstraße. Es fiel Regen, aber das tat Pauls guter Laune keinen Abbruch. Fasziniert beobachtete er, wie die Tropfen auf der Windschutzscheibe der Schwerkraft trotzten und aufwärts flossen. Schon als Kind war das immer so etwas wie ein kleines Wunder für ihn gewesen. Bis er dann älter wurde und den logischen Grund begriff. Danach verlor das Phänomen etwas seine Faszination. Und bis heute Abend schien dieser Teil, den er sich tief in seinem Inneren bewahrt hatte, geruht zu haben. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass sich daran etwas geändert hatte. Aber vielleicht war das ja gut so. Vielleicht bewahrt ja jeder Erwachsene einen kleinen Teil seiner Kindheit in sich auf.
Nach dem Bad war er in gute Klamotten gesprungen. Die Rolex hing locker an seinem Handgelenk. Er war nicht großkotzig, er hatte nur Lust, sie zu tragen. Und er hatte sagenhafte zwei Minuten darauf verwendet, sein Haar nach hinten zu gelen wie ein Zuhälter. Es fehlte nur noch der Zopf, das Hemd offen bis zum Bauchnabel und hautenge Jeans, die einem die Eier quetschten.
Der Scheibenwischer tat träge seinen Dienst und der Motor brummte vergnügt. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit und die Straße glänzte wie ein Edelstein. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet, und Paul lenkte den Porsche mittendurch; dabei quietschte er vor Vergnügen, wenn das Wasser zur Seite spritzte.
Paul wusste, dass er für die Witterungsverhältnisse zu schnell fuhr. Doch statt zu bremsen, erhöhte er noch die Geschwindigkeit. Es erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue, wie schnell der Wagen beschleunigte. Seine Kraft war erstaunlich. Wo holte er das nur her? Natürlich wusste er, wie viele Pferdestärken dieser Teufelsschlitten unter der Haube hatte, aber das waren nur Zahlen. Ob nun dreihundert oder vierhundert PS – die Kraft, die daraus hervorsprang, war das Faszinierende. Dieses Gefühl, wenn er das Gaspedal nur leicht durchtrat. Atemberaubend. Mit nichts zu vergleichen.
Er ließ auf der Beifahrerseite das Fenster herunter, schaltete das Radio aus und gab noch mehr Gas. Mittlerweile raste er wie ein Pfeil durch die Dunkelheit. Ein hundertachtzig Sachen schneller Pfeil. Jetzt, da das Fenster offen war, hörte er noch besser den satten Sound. Und weil der Fahrtwind an der Karosserie vorbeipfiff, klang es sogar noch um einiges besser. Zugegeben, der Wind kam gegen den Motor nicht an. Aber dennoch hörte er eine wahre Sinfonie aus herzhaftem Brummen und zierlichem Brausen.
Mit einem Mal verlor er den Kontakt zur Straße und rutschte in Richtung Straßengraben. Augenblicklich setzte sein Herz einen Schlag aus, um dann dreimal so schnell weiterzuschlagen, und er spürte einen seltsamen Druck in den Innereien, als würden seine Eingeweide nach außen gerissen. Obwohl es vorhersehbar war, dass so etwas geschehen würde, geriet er in Panik. Er spürte, dass die Räder keinen Kontakt mehr zum Asphalt hatten und nur noch über das Wasser rutschten wie die Kufen eines Schlittschuhs. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Aber Paul bewies Geistesgegenwart, denn er ignorierte den Anflug von Panik und ging behutsam vom Gas. Und er beherrschte sich sogar so weit, nicht auf die Bremse zu treten, denn das wäre fatal gewesen.
Es konnte sich nur um eine Sekunde gehandelt haben. Eine einzige Sekunde von dem Augenblick an, als er den Bodenkontakt verlor bis zu dem, als er vom Gas ging. Kaum länger als ein Wimpernschlag, aber ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Das Gefühl zu fliegen verging nicht, und das bedeutete gewiss nichts Gutes. Groteskerweise trug er die ganze Zeit ein dümmliches Grinsen im Gesicht.
So plötzlich, wie der Kontakt zur Straße verschwunden war, war er wieder da. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, und er bekam einen Schweißausbruch. Eine Sekunde lang verspürte er den törichten Drang, wieder Gas zu geben. Da er aber trotz allem nicht lebensmüde war, verkniff er es sich und verringerte das Tempo. Der Zwischenfall zerstörte seine gute Laune nicht, machte ihn aber vorsichtiger. Paul schloss das Fenster, schaltete das Radio wieder ein und fuhr stumm durch die Nacht. Der Motor verrichtete seinen Dienst nun nicht mehr so laut wie zuvor und schien darüber gar nicht erfreut zu sein. Allem Anschein nach betrachtete er es als seinen Job, ordentlich Krach zu machen.
Paul bekam plötzlich eine schier unbändige Lust nach einer Zigarre. Er wollte unbedingt einen aromatischen Donnerbalken zwischen den Zähnen haben. Wie lange hab ich schon keine Zigarre mehr gepafft?
Er dachte nach. Es war zehn vor elf, die Geschäfte hatten geschlossen. Aber wenn er einen Umweg von zwanzig Kilometern machte, kam er zur nächsten Tanke. Dauert höchstens ’ne Viertelstunde, so lange wird Jerome ja noch warten können, oder?
Es dauerte nur achtzehneinhalb Minuten, und er war wieder an der Abbiegung. Zwar später als erwartet, aber immer noch in einer annehmbaren Zeit. Paul setzte den rechten Blinker, bog ab und fuhr wieder in die ursprüngliche Richtung. Hochzufrieden mit seiner Leistung, saß er hinterm Steuer. Er hatte bekommen, was er wollte und fühlte sich