Eine halbe Stunde später fuhr er die Einfahrt zu Jeromes Grundstück hinauf. Mittlerweile war der Regen in ein strömendes Gießen übergegangen. Was er sah, überraschte ihn: Das Haus war vom Giebel bis zum Keller mit Lichterketten behangen, sogar die Tannen waren geschmückt. Ein Meer aus roten, grünen, blauen, weißen und gelben Lichtern.
Langsam fuhr er die Einfahrt hinauf. Auf den letzten Kilometern hatte er etwas Bammel bekommen und war mehr als einmal wildentschlossen gewesen, umzukehren, heimzufahren, auf Jerome zu scheißen. Aber damit hätte er das Unvermeidliche nur hinausgezögert. Und heute konnte er es nicht nur herausfordern, sondern auch die Art und Weise wählen, wie sie es erfahren sollten.
Er ließ den Motor noch ein paar Sekunden im Leerlauf brummen. So hatte er Zeit, sich zu sammeln, tief einzuatmen und sich gegen das zu wappnen, was da kommen möge. Auf einmal kreischte eine seiner inneren Stimmen: Was zum Teufel tust du hier? Verschwinde, so schnell du kannst!
Die Stimme kam so überraschend, dass Paul zusammenzuckte – nicht nur, weil sie sich unaufgefordert zu Wort meldete, sondern auch, weil sie verdammt Recht hatte. Was, zum Teufel tat er eigentlich hier?
Noch wusste niemand, dass er hier war. Einfach zu verschwinden wäre kein großer Akt: Ersten Gang einlegen, Kupplung kommen lassen, auf der Einfahrt wenden und einfach wieder abhauen. Der Gedanke war verlockend. Aber so leicht wollte er es sich nicht machen. Das war der Weg, den Feiglinge einschlagen würden. Und er war kein Feigling. Und außerdem, was würde er damit erreichen? Nichts. Nicht die Bohne.
„Fick dich“, sagte er und knabberte an der Zigarre, die beruhigend zwischen seinen Zähnen wippte. Dann machte er erste Anstalten, sich aus dem Fahrzeug zu schälen. Den Weg vom Auto zur Eingangstür erlebte er wie in Trance.
Was zum Geier soll das? Mach, dass du wegkommst! Kauf dir ’n paar Bier, fahr heim und besauf dich ordentlich! Das ist das Beste, was du tun kannst! Hörst du denn nicht?
Anscheinend nicht, denn er spie ein giftiges: „Halt endlich dein elendiges Schandmaul! Ich sagte dir bereits, was du mich kannst. Oder?“ Mit diesen Worten drückte er auf die Klingel. Und nun glitt er auch wieder von dem tranceähnlichen Zustand zurück in die Wirklichkeit, wo er selbst Herr seiner Taten war.
Du hast noch zwei Sekunden …
„Klappe!“
Schon ertönten Schritte, und da es ohnehin zu spät war für einen Rückzug, verstummte die Stimme und verschwand dorthin, woher sie gekommen war. Paul zog den Rauch der Zigarre ein, und in diesem Moment wusste er, dass er das Richtige tat. Alle Zweifel waren weggewischt.
„Hi, Paulchen“, begrüßte ihn der Gastgeber, „schön, dass du kommen konntest.“
„Ja, ja“, murmelte Paul mit zusammengepressten Lippen. Angst und Unsicherheit waren wieder da, hatten ihn jetzt voll im Griff, als hätten sie nur kurz hinter seinem Rücken gelauert. Und beide arbeiteten Hand in Hand. Sie peinigten ihn, fesselten seine Gedanken an negative Dinge, und um ein Haar wäre er davongestürzt. Doch so schwer es ihm auch fiel – er riss sich zusammen, zog noch einmal an der Zigarre und legte ein Mir-scheißegal-Grinsen auf. Zwei Sekunden später stellte er mit Genugtuung fest, dass seinem Gegenüber vor Überraschung der Mund weit offen stand. Ungläubig starrte Jerome auf die Zigarre, die zwischen seinen Lippen wippte. Paul ließ ein paar Augenblicke in Würde verstreichen, genoss den verdatterten Blick und stand regungslos da.
„Du rauchst wieder? Ich dachte, du hast dem Tabak entsagt?“
„Wie du siehst.“
Wieder vergingen ein paar Sekunden, in denen die Männer sich schweigend gegenüberstanden. Teils lag es daran, dass Jerome von der Zigarre überrascht war, teils aber auch daran, weil Paul so lässig und selbstsicher wirkte. Das kannte man sonst gar nicht von ihm. Sonst war er ein eher stiller Typ. Aber jetzt wirkte er fast schon cool.
„Willst du mich nicht reinbitten?“
„Äh … was? Ach so.“
Während Paul an ihm vorbeischlenderte und zufrieden paffte, dachte er bei sich: Was bin ich doch für ein großartiger Schauspieler. Ich markiere hier den starken Mann, aber in Wirklichkeit mach ich mir vor Angst fast ins Hemd. Und er schickte ein Dankgebet an jeden Gott, von dem er je gehört hatte, während er zugleich darum bat, dass er nicht nach Jeannine gefragt würde.
Das Haus war groß, fast schon eine Villa. Es war von einer mächtigen Rasenfläche umgeben, die eine drei Meter hohe Mauer umschloss. Der Rasen war vereinzelt mit Sträuchern, schwarzem Holunder und Faulbäumen besetzt, und hier und da stand sogar eine Tanne. Das Grundstück war groß und prächtig, aber er war nichts im Vergleich zum Haus.
Schon im Vorzimmer ahnte der Besucher, dass sein Besitzer finanziell gut bestückt war. Direkt neben dem Eingang stand ein antikes Möbelstück, bei dem man nicht sicher sein konnte, ob es nur zur Dekoration da war oder ob man die Jacke hineinhängen konnte. Das Wohnzimmer war weitläufig wie ein Saal, aber nur spärlich möbliert. Ein großes, bequem aussehendes Sofa in der Mitte und ein riesiges Heimkino davor. Im hinteren Teil des Zimmers führte eine Wendeltreppe in den Keller, und ab da wurde es erst interessant. Den dort unten, wusste Paul, war ein riesiger Pool. Dieses Monster von einem Planschbecken erstreckte sich fast über dreißig Quadratmeter, und in der Mitte spie ein Springbrunnen Wasser nach oben. Durch Felsbrocken hatte man das Gefühl, auf den Seychellen zu relaxen. Palmen wuchsen hinauf bis zur Decke, und an die Wände war ein schier undurchdringlicher Dschungel in den sattesten Farben gepinselt. War das ein schnuckeliger Zeitvertreib! Vor allem in den kalten Monaten. Auch wenn sie dem einen oder anderen vielleicht großkotzig erschien – Jerome liebte seine Oase inbrünstig.
Paul hatte auch mal mit der Idee geliebäugelt, sich so etwas zuzulegen. Aber der Staub, der Schmutz und der Lärm der Bauarbeiten hatten ihn schnell wieder davon abgebracht. In den zwei oberen Etagen waren, wie er wusste, weitere Zimmer: das Esszimmer, zwei Schlafzimmer (eines davon für Gäste), die Kinderzimmer, die Bäder und, nicht zu vergessen, das wichtigste Zimmer überhaupt: das Arbeitszimmer. Alles war hübsch und geschmackvoll eingerichtet, aber lange nicht so spektakulär wie der Keller.
„Komm mit! Ich muss dir was Obergeiles zeigen. Mein kleiner Südseetraum ist wieder um eine Attraktion reicher!“
Paul grinste. Er wusste, was jetzt kam. In den Jahren war es fast schon ein Ritual geworden: Jedes Mal, wenn er Jerome besuchte, zeigte dieser ihm als erstes, was sich an seinem Südseetraum verändert hatte. Er platzte fast vor Stolz. Jetzt führte er ihn durch eine Reihe von Menschen hindurch (Paul kannte nicht annähernd die Hälfte) und ging zielstrebig zur Wendeltreppe. Er lief mit schnellem Schritt, und Paul hatte Mühe ihm zu folgen. Die Zigarre klemmte noch fester zwischen seinen Lippen. Er biss fast darauf. Es spendete ihm Sicherheit. Die fremden Gesichter ängstigten ihn. Es wusste, es war albern, aber er kam sich vor wie ein kleines Kind, dass in einer Menschenmenge seine Mama verloren hat.
Schließlich erreichten sie die Treppe. Auf der dritten Stufe saß ein Pärchen und knutschte; offensichtlich waren beide nicht mehr ganz nüchtern. Jerome hüstelte verlegen, und die Ertappten erhoben sich. Als Paul dann endlich sah, was Jerome ihm zeigen wollte, konnte er sich ein erstauntes „Hui“ nicht verkneifen.
Sie standen am Rand des riesigen Swimmingpools, die künstlichen Palmen im Rücken. Paul erfasste sofort, was sich verändert hatte. Guck einer an, ging es ihm durch den Kopf, Jerome ist tatsächlich ein paar Zentimeter gewachsen. Oder hob er vor Stolz fast vom Boden ab?
Jedes Haus braucht, damit es nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, Stützen. Normalerweise übernehmen diesen Jobs die Wände. Da der Keller aber fast nur ein riesiger Pool war, sah es hier unten mit Stützwänden spärlich aus. Also mussten dicke Stützpfeiler eingebaut werden. Und genau da lag der Hund begraben. Denn diese Pfeiler, so unentbehrlich sie auch sein mochten, zerstörten das Landschaftsbild. Wer will schon an einem Strand liegen, an dem ein Meter