Eine Welle aus Schmerz stieg über ihn hinweg, und mit ihr stürzten Erinnerungsfetzen auf ihn ein. Sie waren klein und bruchstückhaft, aber da er ja momentan nichts anderes zu tun hatte, machte er sich daran, sie zusammenzufügen. Wer weiß, dachte er, vielleicht erfahre ich ja so, wo ich bin.
Irgendwo vor sich sah er eine Straße. Sie war asphaltiert, links und rechts mit Begrenzungspfeilern markiert und schimmerte schwärzlich. Paul sah sie deutlich vor sich, konnte aber nicht erkennen, wohin sie führte. Bäume säumten ihren Rand, aber ob sie der Grund dafür waren, dass er ihrem Lauf nicht folgen konnte, wusste er nicht. Vielleicht lag es nur daran, dass es so dunkel war.
Von irgendwoher tauchte ein Scheinwerferkegel auf und bohrte sich durch die Dunkelheit. Das Licht kam schnell näher, aber es war unschwer zu erkennen, dass es noch ein Stück entfernt war. Es war beängstigend zuzusehen, wie sich der Kegel lautlos seinen Weg durch die Dunkelheit bahnte. Wie ein Geist oder Irrlicht. Er bohrte sich durch die Dunkelheit, als wüsste er genau, wohin er wollte.
Nach kurzer Zeit gesellte sich zu dem Licht ein Brummen. Anfangs hielt Paul es für einen Bären. Aber was sollte bitteschön ein Bär mit Licht anfangen? Also verwarf er den Verdacht. Allem Anschein nach war es ein Fahrzeug.
Wieder verstrich einige Zeit.
Mit einem Mal wurde das Brummen lauter, und auch der Lichtkegel hüpfte hektisch. Was auch immer es sein mochte, es war nicht mehr weit entfernt. Plötzlich richtete der Lichtstrahl sich genau auf ihn, als nähme er ihn ins Visier. Jetzt endlich erkannte Paul, dass das Licht von zwei nebeneinanderliegenden Lampen stammte. Weil sie ihn blendeten, sah er zu Boden, ein Reflex, er tat es unbewusst. Was aber jetzt geschah, war nichts als purer Überlebenswille.
Paul riss die Augen auf. Sein Herz setzte aus. Unter seinen Füßen war Asphalt, vor ihnen war Asphalt, und neben ihnen ebenfalls. Da brauchte man keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen, wo man sich befand! Paul warf sich mit der ganzen Kraft seiner Beine nach links. Und genau das war sein Glück. Denn in diesem Moment kam das Fahrzeug herangerauscht. Obwohl Paul alle Kraft in den Sprung gelegt hatte, war es ihm, als käme er keinen Millimeter vom Fleck. Das Fahrzeug war jetzt schon gefährlich nahe. Der Fahrtwind schlug ihm wie eine Faust ins Gesicht. Und während er ihn spürte, war es ihm, als zerbrösele jeder Knochen in seinem Körper zu Mehl. Das war aber nichts im Vergleich dazu, was geschehen wäre, wenn er nur einen Wimpernschlag gezögert hätte. Jetzt erkannte er, dass der Wagen ein Porsche war. Aber es war nicht irgendein Porsche, es war sein eigener.
Wie war das möglich? Er musste sich verguckt haben. Dass er einer Sinnestäuschung erlegen war, war durchaus nicht weithergeholt, vor allem nicht nach diesem Kamikazesprung. Doch diese Erklärung akzeptierte Paul nicht. Er hatte das Kennzeichen gesehen. Alles hatte gepasst, von den Felgen bis zum Dach. Er liebte seinen Flitzer und kannte ihn wie seine Westentasche. Außerdem hatte er den Aufkleber „Stoppt Tierversuche! Nehmt Politiker!“ gesehen. Er pappte genau da, wo er sein sollte: rechts neben dem Nummernschild. Und hatte er nicht auch, als er die Luft gesegelt war, einen Blick auf den Fahrer erhaschen können? Er, Paul war es gewesen, er selbst, zweifellos. Aber wie war das möglich? Wie, zum Teufel?
Paul rollte aus, kam mit dem Rücken an einen Baum gelehnt zum Stillstand und starrte fassungslos dem Wagen hinterher. Die Bremslichter flackerten kurz auf, erloschen wieder, und dann wurde die Fahrt mit zunehmendem Tempo fortgesetzt.
„Scheißkerl, verfluchter!“, schimpfte Paul. „Wohl den Führerschein im Lotto gewonnen, was? Besoffenes Arschloch!“
Und da dämmerte ihm etwas, und er schreckte hoch.
Paul saß kerzengerade im Bett.
Jetzt war ihm endlich gekommen, was die Erinnerung ihm hatte sagen wollen: Er selbst war dieser Trunkenbold gewesen. Aber das war noch längst nicht alles. Das Schlimmste war, dass er in diesem Zustand Auto gefahren war. Benommen sah er sich um. „Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich bin.“
Und mit diesen Worten flammte neuer heißer Schmerz in seinem Kopf auf.
Die plötzliche Helligkeit war unangenehm. Auch von ihr kamen die Kopfschmerzen, aber vor allem war der Alkohol schuld. Sein Schlafzimmer war hell, und das konnte nur bedeuten, dass es schon nach Mittag war. Paul seufzte und richtete sich auf. Der Schwindel und sein Kopf, der sich anfühlte, als wäre er zur Größe eines Medizinballes geschwollen, wollten ihn mit vereinten Kräften wieder flachlegen. Er kämpfte mit aller Macht dagegen an und schaffte es schließlich, wankend stehenzubleiben.
Das Schlafzimmer war ein Saustall: Klamotten lagen wild durcheinander, und es stank nach Alkohol und Qualm. Für den schlimmsten Gestank waren die Kotzlachen verantwortlich, die wie Pfützen auf dem Boden standen.
Mit brummendem Schädel stapfte er nach draußen. Diesmal lüftete er nicht. Er wollte nur hier raus. Mit Krachen flog die Tür ins Schloss. Paul erschrak. Und so hielt er erst einmal inne, um zu verschnaufen. Er stand auf dem Flur und hielt noch immer die Türklinke, als wäre seine Hand daran festgeklebt. Ihm war speiübel, sein Körper und sein Atem stanken bestialisch, sein Kopf dröhnte wie ein Presslufthammer, und er fragte sich, ob er den ganzen Alkohol, den er bei Jerome hatte mitgehen lassen, getrunken hatte. Die Frage war einfach zu beantworten. Dazu brauchte er nur in seinen Körper hineinhören, um zu wissen, dass er genau das getan hatte. Glauben konnte er es trotzdem nicht.
„Ich brauche ’ne Tasse Kaffee. Einen extrastarken. Einen, der mich wieder auf die Beine bringt.“
Seine Stimme klang schwach und zittrig.
Eine knappe Stunde später hatte er nicht nur eine Tasse, sondern eine ganze Kanne getrunken. Er war heiß und stark gewesen, aber Paul bezweifelte, dass er ihm nutzte. Er fühlte sich noch ebenso beschissen wie vorher. Das einzige, was sich geändert hatte, war der ständige Harndrang. Mittlerweile war er schon fünf Mal pissen gewesen, und allmählich wurde es Zeit für das sechste Mal. Schweiß lief in Bächen an ihm herunter, und nur eine Sekunde später überkam ihn eine Gänsehaut. Ihm war abwechselnd kalt und heiß, sein Hals kratzte, und seine Stimme war belegt. Nichtsdestotrotz redete er wie ein Wasserfall vor sich hin. Er laberte einfach alles nach, was ihm gerade in den Sinn kam, egal, ob es intelligent war oder Schwachsinn.
„Soso, du bist also noch Auto gefahren? Junge, Junge, Junge, was bist du nur für ein Teufelskerl! Der Kaffee ist schweineheiß. War ’ne tolle Party gestern, oder? Igitt, igitt, ich hab ja noch Kotze am Finger. Scheißegal. Zum Glück ist nix passiert …“
Da wurde ihm siedendheiß und kalt zugleich. Er erinnerte sich plötzlich, wie er sich durch einen Sprung in den Straßengraben gerettet hatte – und zeitgleich war er auch der Fahrer gewesen. Hatte das etwas zu bedeuten? Paul öffnete langsam den Mund, als ob er etwas sagen wollte, schloss ihn aber wieder und starrte in die Kaffeetasse, als stände die Antwort darin. Mit einem Mal sprang er wie von der Tarantel gestochen auf; in seinen Augen lag blankes Entsetzen. Im Hinterkopf registrierte er, dass seine Hand schmerzte, weil der heiße Kaffee, den er eben umgeschmissen hatte, darüber gelaufen war.
Wie von Sinnen sauste er aus der Küche und hastete den Flur entlang auf die Terrasse. Mit einem mächtigen Satz sprang er über die Hecke und kam neben dem Kotflügel seines Wagens zum Stehen. Der Sprint war ihm gehörig auf die Puste gegangen, und er musste erstmal verschnaufen. Aber sein Gehirn lief weiter auf vollen Touren. Es malte sich die schlimmsten Dinge aus. Was, wenn er jemanden angefahren hatte? Ihn verkrüppelt hatte? Seine Nackenhaare richteten sich auf. Vielleicht lebte dieser Jemand ja noch …? Vielleicht lag er ja noch schwerverletzt, blutend und mit gebrochenen Gliedern im Straßengraben …? Unentdeckt …? Noch immer auf Rettung hoffend, während er qualvoll und einsam starb …?
„Schluss damit!“, herrschte Paul sich an. Er war wieder bei Puste und begann den Wagen zu kontrollieren; auf allen Vieren kriechend suchte er jeden Millimeter