Die Ehre der Stedingerin. Eike Stern. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Stern
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738039856
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und Elmendorf leben nicht annähernd so viele Menschen wie hier. Das Ammerland besteht aus Moor, Erlenbruch und Birkenwald. Große Weiden und Höfe wie hier gibt’s da nicht. Aber mein Vater handhabt das mit den Steuern äußerst ungezwungen. Der Graf von Oldenburg lebt in dem Glauben, wir hätten 54 Untertanen und 37 Hunde.“

      Dirk grinste. Er strich sich andächtig über das Kinn und fühlte sich als Hahn im Korb, da ihm inzwischen alle am Tisch atemlos zuhörten. „Wird es euch hier allzu ungemütlich, wandert doch aus. Wir haben einen Aufruf in Groningen und Utrecht aushängen, dass wir Siedler suchen. Auf ein paar mehr kommt es nicht an. Zehn Jahre totale Steuerfreiheit und dann… na ja, jeder das, was er erübrigen kann. Ist ein Unwetter Schuld an der Misere, geht es auch mal ohne Abgabe. Der gute Wille zählt mit… Mein Vater zeigte sich nie versessen auf Geld. Ich werde es so beibehalten… versprochen. So kriegt der Graf von Oldenburg wohl nicht ganz, was ihm zustünde, aber fragt unsere Leute, die sind zufrieden.“

      Plötzlich erhob sich Dirk. „Komm“, sagte er sanft zu Ulrike, „es ist angenehm lau. Lass uns über den Rummel gehen, mal sehen, was die Buden so anbieten.“

      Sie blickte misstrauisch hoch, und es war ihr nach Lachen zumute. In seinen Augen lauerte ein Glanz, der ihr galt; und sie hob die Nase - der Abendwind trug Düfte von den Garküchen am Palisadenzaun herüber.

      Er versuchte, sie an der Hand mitzuziehen, und Ulrike musste sich beherrschen, nicht zuzugreifen. Doch sah es besser aus, ohne seine Hand zu halten, an den Ständen entlang zu bummeln, die sich am Palisadenzaun der Warft reihten. Über einen Tisch bot ein orientalisch gekleideter Händler mit verwittertem Gesicht und blankem Hinterkopf Öllampen feil, und bei einem hellblauen Zelt in Form eines Hausdaches handelte es sich um eine Garküche. Es gab gebrannte Mandeln und kandierte Früchte vom Rost. Dirk kaufte für zwei Kupferpfennige zwei Bratwürste. Ulrike machte einen Knicks, als er ihr eine abgab und biss im Weitergehen vorsichtig ab, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie heiß der Bissen im Mund brannte. Sie hatte den Eindruck, er wollte ihr etwas kaufen, da er bei einem Händler aus Flandern auf ein blütenweißes Leinenkleid mit fantasievoller blauer Stickerei auf den Borten aufmerksam machte. Nie hätte sie sich dazu überreden lassen, aber die Bratwurst aß sie mit sichtlichem Appetit und schlang, ausgerechnet, als er sie ansah, das letzte Stück herunter. Dadurch verschluckte sie sich. Dirk klopfte ihr sachte die Schulter, führte sie zu einem sechseckigen Zelt, das wirkte wie ein Pavillon aus weißem Leinen, wo ein Paar junger Leute Lederarbeiten ausstellte: Taschen, Schnürmanschetten, Lederbeutel, Gürtel in hellem Rindleder oder auch in dunkel eingefärbtem, und dazu Eisenschnallen. Ulrike fragte sich, um was es ihm hier ging, und er eröffnete ihr: „Ich werde morgen früh auf Burg Keyhusen erwartet – zu einer Saujagd. Und es ist ein Mordsritt zur Burg. Ich muss mich dringend auf den Weg machen.“

      Sie schmeckte die Rostbratwurst noch auf der Zunge und glaubte, aus allen Wolken zu fallen. „Oh“, rutschte ihr betrübt heraus.

      „Ich möchte dich wiedersehen“, beruhigte er sie galant. „In einem Monat ungefähr könnte ich wieder nach Berne. Ich klopfe einfach an und bringe dann ein wenig mehr Zeit mit.“

      „In der Schmiede würdest niemanden mehr antreffen. Wir sind umgezogen zum Aumundhof. Der rückt in Sicht, sobald man die große Huntebrücke überquert.“

      „Führst du mich hin, zeigst mir das Haus der Aumunds? Ich weiß nicht, ob ich es andernfalls finde, verstehst du?“

      Ulrike fühlte sich in ein wahr gewordenes Märchen versetzt. Es war dunkel geworden. Hinter dem letzten der Stände am Palisadenzaun brannte ein heftig räucherndes Lagerfeuer. Zahllose Fackeln und Talglichter erleuchteten die von Blumengirlanden überhangene Festtafel, während die beiden sich über die Holzbrücke entfernten in Richtung Deich. Dort wollte er sie in den Arm nehmen, und sie entwand sich ihm. So ziemlich jeder Edelmann wäre eingeschnappt gewesen, nicht so Dirk von Keyhusen. „Ich stamme aus dem Ammerland“, ging Dirk im Plauderton darüber hinweg. „Bei uns gibt es einen See, der ist einfach riesig, deshalb nennen wir ihn das Zwischenahner Meer. Sehe ich im Sommer zum Abendrot aus dem Kaminzimmer, schaue ich auf eine Bucht, die ist blau, zugewuchert von blauen Lilien. Du wärest entzückt. Aber was rede ich. Nächstmal nehme ich dich einfach mit, du wirst schon sehen, was ich meine.“

      „Du willst mich mitnehmen nach Rastede?“

      „Nach Burg Keyhusen“, berichtigte er sie. „Ja, das nächste Mal möchte ich dich meinen Freunden Godeke und Ekhard vorstellen und dir die Burg zeigen… eine Burg aus Stein, mit einem Bergfried, zwischen zwei Auen. Das Dorf Zwischenahn vor unserer Haustür hieß früher einmal Zwischenauen.“

      Lange verweilten sie auf der Huntebrücke, hörten den Fluss unter sich rauschen. Über allem blinkten die Sterne, und bei den Feuchtwiesen des anderen Ufers wurde es merklich finsterer. Ulrike konnte kaum noch die eigene Hand erkennen und wies ihm das im blauen Mondlicht liegende Gehöft der Aumunds.

      Er hielt Wort und brachte sie zum Festplatz am Rathaus zurück. Wenn er nun seinen Rappen bestiegen hätte, wäre ihm einiges an Ärger erspart geblieben. Doch beschlich ihn das Gefühl, sie damit im Stich zu lassen. „Ulrike“, sagte er leise und wartete geduldig, bis sie den Mut aufbrachte, ihm noch einmal in das Gesicht zu schauen. „Gerne lasse ich dich nicht allein, ohne zu wissen, wie es mit deinem Vater weitergeht. Unser Heiland hat einmal gesagt, wer Zeuge wird bei einem Unrecht und einfach wegsieht, ist ebenso verantwortlich wie die, die es begehen. Wer das begreift, hat nie mehr das Recht, einfach wegzusehen. Und das behaupte ich nicht, um zu gefallen. Ich habe durchaus meine Fehler und Schwächen, aber, wenn ich meinen Schutz anbiete, stehe ich dazu, egal welche Kreise das zieht. Ich muss zwar jetzt zur Burg, aber wir sehen uns wieder - bin ein Edelmann mit Grundsätzen, das halte ich mir zugute.“

      Er zog sich einen Goldring mit einer filigran umrankten Blüte aus Granatsplittern vom Finger. „Gib mal deine Hand“, forderte er.

      Ulrike schüttelte abwehrend den Kopf, immerhin warf sie ein Auge darauf. „Bitte, kein Geschenk“, sagte sie mit Nachdruck.

      „Kein Geschenk?“, wiederholte er enttäuscht. „Gut, bewahre ihn für mich auf. Und sende ihn mir, falls du einmal Hilfe brauchst.“

      Sie rang mit sich, lächelte ihn darauf an. „Also gut, aber ich stecke ihn erst auf den Ringfinger, wenn wir uns wiedersehen“, stellte sie zur Bedingung. Keine Frage, dieser Junker meinte es gut mit Ulrike, und er machte sie traurig, weil er es plötzlich eilig hatte. Wenigstens versprach er: „Ich werde in etwa einem Monat auf dem Hof der Aumunds erscheinen. Versprochen. Leb‘ wohl.“ Zum Abschied gab er ihr aus dem Sattel einen Handkuss und sprengte über die Bernebrücke davon, denn das Ross des Freundes, mit dem er in Berne weilte, fehlte mittlerweile und ihn trieb ein ungutes Gefühl nach Burg Keyhusen. Ulrike schluckte trocken, als sie ihn nicht mehr sah. Dann fuhr sie sich verwirrt über die Stirn und fragte sich, ob sie die Stunden mit ihm geträumt hatte.

      Der volle Mond war unterdessen ein gutes Stück gewandert, leuchtete in seinem unheimlichen Glanz zwischen dem Kirchturm und dem Rathaus. Ulrike fühlte sich auf einmal allein wie ewig nicht. Sie musste sich eingestehen, sie hatte ihre Schwestern, den Vater und die neue Freundin über diesen jungen Mann vergessen - an den zu denken ihren Puls schneller schlagen ließ. Timke wenigstens nach dem Ausgang des Sackhüpfens zu fragen, wäre das Mindeste gewesen. Niemals zuvor geriet ihre Fürsorge für die jüngeren Geschwister so gründlich in Vergessenheit, und sie beschleunigte beschämt ihren Schritt. So kam sie mit beunruhigt umherstreifenden Blicken am Lagerfeuer vor dem Palisadentor vorbei, wo die Holzbrücke über den kleinen Wasserlauf führte, der hieß wie die Ortschaft Berne. Hier, wo viel junges Volk ihres Alters in die Flammen stierte und Männlein und Weiblein zu fortgeschrittener Stunde noch miteinander scherzten und lachten, traf sie Birte wieder. Die saß bei Eike von Bardenfleth in einer bunten Runde, aus der Ulrike sonst niemand kannte, und freute sich, die Freundin in den Feuerschein treten zu sehen. „Dein Vater ist mit Wibke und Timke zu unserem Hof aufgebrochen“, beruhigte Birte sie, und für den Rest des Festes blieb Ulrike bei Eike und der Freundin. Ein hochbetagter Knecht, der einmal ein Auge verlor, weil eine Kuh gedeckt werden sollte und der Bulle wild wurde, brachte unversehens Neuigkeiten vom Nachbarhof. „Gestern besuchten Renke van Hartjen Waffenknechte. Sie haben ihn vom Gut gescheucht wie einen Bettler und drohten