Ulrike unterdrückte einen Aufschrei. „So bringt der Graf die zum Schweigen, die sich herausnehmen, ihm die Meinung zu sagen. Gott, ist das mies. Ja, ja, die Burgen bringen nichts Gutes, das sagtest du oft.“ Dann dachte sie nach. „Und was willst du tun, Vater? Wollen wir uns eine andere Bleibe suchen? Ich bin befreundet mit Birte, der Tochter der Aumunds, und der Deichgraf bewirkte bei den Aumunds ein Wunder. Allen in Berne und Elsfleth führte er vor, was es ausmacht, helfen wir uns gegenseitig und unterstützen einander. Vielleicht hilft Birtes Vater uns.“
„Ich weiß nicht, ob ich das möchte“, erwiderte Lüder. Die große Erleichterung verschaffte es ihm nicht. Es klang eher knurrig und unzufrieden, ohne wirklich Hoffnung zu schöpfen.
Dann öffnete sich die Küchentür, Wibke erschien, die kleine Timke an der Hand. „Was zieht ihr für Gesichter?“
„Wir werden von hier vertrieben“, erklärte Ulrike.
Lüder verbesserte sie. „Entweder ich füge mich, künftig für den Grafen zu arbeiten, oder sie zerren uns mit Gewalt aus dem Haus und wir schauen ohnmächtig zu, während sie vor unseren Augen die Schmiede abreißen.“
Auch Wibke schluckte heftig auf die böse Neuigkeit. Timkes Hand verkrampfte sich in die der Schwester, ihre Augen nahmen einen nassen Schimmer an. Sie barg das Gesicht an der Schürze von Ulrike und schluchzte. Ulrike strich ihr über das Haar und versuchte, sie zu trösten. „Vater malt schnell den Teufel an die Wand. Ob es uns so schlimm trifft, wie es sich in seinem Brass anhört, wollen wir mal sehen.“
„Vielleicht noch schlimmer“, bellte Lüder. „Oh wie ich ihn hasse - diese Ratte mit Sporen.“ Er schüttelte den Kopf über die fatale Lage und bekam offenbar selbst feuchte Augen.
„Also ich gehe jetzt zu Birte“, entschied Ulrike und beschloss, das nicht lange aufzuschieben. Die Augen streiften von Wibke zu Timke, wie eine Aufforderung, ihr zu folgen. Die beiden Schwestern nickten einander zu, und sie ließen den Vater allein in seinem Groll. „Wir müssen uns danach sputen und schleunigst zum Hemmelskamper Wald“, gab Wibke der Älteren zu bedenken. „Alle helfen auf der Rodung, fällen Bäume und beladen die Fuhrwerke.“
„Jeden Tag verspätet sich der eine oder andere“, beruhigte Ulrike sie. „Hauptsache wir sitzen mit am gemeinsamen Mittagstisch. Gewöhnlich geht dann der Konrad mit dem Ehlert durch die Bänke und kontrolliert, wer fehlt.“
Auf der hölzernen Huntebrücke erzeugten ihre Schritte ein dumpfes Poltern. Sie hielten einen Augenblick inne. Der heftige Regen hatte die Hunte über Nacht wieder in einen reißenden kleinen Fluss verwandelt, und den Bauch ans Geländer gelehnt, bebte die Brücke spürbar unter der schäumenden Flut. Die überschwemmte Wiese am abgewandten Schilffeld glänzte wie sonst im April; es stank nach dem Regen wie aufgefrischt nach Kuhmist, wenn die verrotteten Felder auch nicht mehr sichtlich dampften. Drei Reiher pirschten verstreut durch das gelb gemusterte Feuchtgebiet mit den Binsen und einer Badebucht. In der Ferne vor dem Birkenwald entdeckte Ulrike auch den Storch, der auf dem Dach der Aumunds wohnte. „Weißt du, was das Unwetter für die Bauern bedeutet?“, fragte sie Timke.
Der fiel spontan auf, „sämtliche Gräben sind voll und die Kornfelder böse zugerichtet. Na und die Apfelbäume drüben, sehen ganz schön gerupft aus.“
Wibke zog die Nase kraus. „Eben. Den meisten ist die Ernte verdorben…“
Erschüttert blickten Timkes Augen ins Leere. Wibke nickte verbissen. „Sonntag ist Erntedank. Alle müssen eine halbe Fuhre Weizen dem Speicher der Lechterburg abgeben. Bei manchen reicht‘s Korn kaum, für Herbst und Winter bei Aumunds Brot backen zu lassen. Etliche dürften bald auf der Straße hocken – ohne eine Bleibe.“
„So wie wir? Och Mensch. Was wird nun aus uns? Wo schlafen wir überhaupt, wenn die uns auf die Straße jagen?“, bemerkte die Kleine ängstlich.
Ulrike seufzte betrübt, mehr nicht, auch wenn sie sich das Selbe fragte. Und doch wehrte sie sich dagegen, den Kopf hängen zu lassen. „Es gilt jetzt, zu tun, was in unserer Macht liegt, damit es gar nicht so weit kommt. Ich weiß was ich tue und hoffe auf Birte. Wenn’s klappt, ist das Problem umschifft. Unsere Mutter sagte gerne, Aufgeben ist Schwäche - nur der Schwache verzagt.“
Pfützen glänzten auf dem Aumundhof. Sie brachen barfuß auf und trugen nicht, wie das Gesinde hier, Trippen aus Holz. Mit nassen Füßen ließen sie den Stall links liegen, wo sich eine stattliche Trauerweide erhob, und Ulrike dachte darüber nach, wie es auf ihre neue Freundin wirkte, wenn sie derartige Sorgen bei ihr ablud. Unversehens öffnete sich knarrend die Stalltür. Birte hatte die Schweine gefüttert, und die Freundinnen schlossen einander in die Arme. „Mein Vater“, begann Ulrike, „hat sich am letzten Sonntag um Kopf und Kragen geredet…“
Nie vorher begegnete die Freundin Ulrike feinfühliger. Birte streichelte ihr die Schultern, schaute sie bewegt an. „Wir haben ausreichend Platz. So viel sage ich dir jetzt schon zu. Unsere Magot, die Küchenmagd, hat als einzige vom Gesinde eine eigene Kammer gehabt, und seit Mariä Namen wohnt und arbeitet sie nun zu aller Überraschung am Almershof, weil sie Nachwuchs gekriegt hat und uns weggeheiratet wurde. Übel, dass sie ausfällt, aber hat ja nun auch etwas Gutes. Die Kammer liegt seitdem verlassen, ungenutzt… Ich rede mit Vater. Er hat ein Herz für Lüder. Der ist so aufrecht, betont er, so oft er auf den denkwürdigen Auftritt vor dem Rathaus zu sprechen kommt, und dann kriegt er sich gar nicht wieder ein und lacht sich scheckig darüber, wie der werte Graf Lüder einen Augenblick angeglotzt hat.“
Das Giebeldreieck des Gutshauses trug ein kleines Dwalm, und es hatte drei Türen, in der Mitte ein großes Doppeltor und zwei kleine, die zum Kuh- und Pferdestall führten. Ulrike folgte Birte durch den großen Eingang auf die festgeklopfte Diele, wo im Winter das Korn gedroschen wurde. Auf einer Seite drängten sich in Pferchen die Kühe, auf der anderen reihten sich die Raufen und Krippen des Pferdestalls. Es raschelte im trockenen Stroh, eine braune Glucke mit Küken flüchtete vor der einfallenden Sonne hinter die Pferdekrippe. Da Ulrike sich aufmerksam umschaute, hielt es Birte für angebracht, sie auf den Bretterboden über der Diele hinzuweisen: „Das ist der Balken. Der Raum dient der Aufbewahrung des frisch vom Feld kommenden Getreides. Unter der Schräge über den Ställen bewahren wir unser Brennholz auf und natürlich Torf und Stroh.“
Die Herdstelle lag im hinteren Teil der Diele, mit der Rauchfangluke darüber, doch Sibo Aumund suchten sie vergebens. Birtes Mutter war darin vertieft, einen Berg von Wurzelgemüse in feine Scheiben zu schneiden. „Zur Hölle soll er fahren, dieser Scheißkerl von Herold“, schimpfte sie und legte ärgerlich das Messer aus der Hand. „Wie der unseren Vater zur Sau gemacht hat, na hättest mal hören sollen. Sibo sei jung genug für den Frondienst, er solle sich nicht erdreisten, seine Knechte vorzuschicken. Ist deinem Vater ganz schön gegen den Strich gegangen. Aber Gott sei Dank, er lässt sich ja was sagen. Herrgott, wenn der… Na grüß ihn schön.“
Dann wandte sie sich wieder dem Zwiebelbrett zu, und sie mussten einen kurzen Spaziergang auf sich nehmen, um mit ihm zu sprechen, und auf der langen Wegstrecke über den Ochtumsdeich dachte Ulrike über ihren Vater nach. Lüder vermochte zu schweigen wie ein Grab, aber den Mund ließ er sich nie verbieten, und sie liebte ihn dafür. Was könnte einem solchen Menschen bitterer schmecken, als hinterher klein beizugeben? Alle, die ihn für seine Unbeugsamkeit bewunderten, würden bald heimlich mit dem Finger auf ihn zeigen.
Es stank nach einem Exempel, ganz ohne Daumenschrauben und Peitsche. Seine gereizte Art und die nassen Augen passten nicht zu ihm, das ließ ihr keine Ruhe. Ihr Blick streifte mit klammem Herzen die überschwemmten Ufer der Ochtum, und sie fühlte sich an eine gruselige Geschichte erinnert. Eike erwähnte kürzlich, in Friesland erzählten die Eltern ihren Kindern gern vom Drängler, damit sie rechtzeitig vom Spielen den Heimweg antraten. Ein gespenstisches Wesen mit nassen Armen