Die letzten Tage des Kommissars. Dieter Lenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dieter Lenz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737565257
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ich etwas sagen konnte, marschierte er an mir vorbei schnurstracks ins Wohnzimmer.

      „Komm, lass uns auf meinen Tod einen heben!“

      Seine Stimme tremolierte wie die des Anrufers, doch jetzt, im Original, wusste ich, er hatte mich angerufen. Dieser Kerl, der sich vor meinen Augen für den toten Journalisten ausgab. Aber... Nur der Journalist kannte meine Wohnung und nur er hatte die Eigenart, sofort ins Wohnzimmer zu marschieren. Er war eine meiner besten Nachrichtenquellen. Also war der Mann hier wirklich der Journalist oder zumindest sein Gespenst.

      Ich setzte mich, hörte, wie das Gespenst an den Glasschrank ging. Gläser klirrten, ein Korken sprang auf, es zischte, dann klopfte er mir auf die Schulter: „Na los, sauf Brüderchen!“

      Ich nahm ihm das Glas ab. Er warf seinen Kopf hoch und trank. Seine Kehle war weiß wie Schneewittchen.

      Als er mich noch immer im Sessel sitzen sah, das Glas in der Hand, ihn anstarrend, lachte er auf und sagte: „Beruhig dich, ich erklär dir alles… Aber jetzt sauf endlich! Ist ja nicht mit anzusehen, wie Berlins bester Schurkenjäger da hockt, als hätte er die Hosen voll!“

      Ich nahm einen Schluck und fragte: „Wie hat er das geschafft?“

      „Menschenskind, du kennst ihn doch. Er kann alles. Nicht mich hat dieses Tier am Hals gehabt, sondern meinen Klon!“

       „Er ist der Teufel“, murmelte ich.

      „Ja, könnte man sagen. Weißt du, das Buch mit dem Roman lag in meinem Briefkasten, darin seine Visitenkarte, und als ich das Buch las – verrücktes Ding, was? – musste ich zu ihm hin, das war doch klar, und ich sage dir, was er dann vor meinen Augen abzog, oha – das hatte was Teuflisches, echt. Aber alles erklärbar! Technik, Wissenschaft … Nein, Herzchen, kein Teufel, er ist ein genialer Wissenschaftler. Der größte unseres Jahrtausends! Wetten?“

      „Und das hast du nicht in die Zeitung gebracht? So eine Jahrtausendstory!“

      „Hätte mir doch keiner abgenommen.“ Er goss sich ein, trank, ging hin und her. „Weißt du, für mich passte einfach alles zusammen. Ich hab Schulden, du hast ja keine Ahnung wie viel, die Klatschgeschichten hängen mir zum Hals raus, und da schlägt er mir ein Geschäft vor. Ich solle verschwinden. Na, das ließ ich mir nicht zweimal sagen.“ Er ging ins Bad, redete bei offener Tür weiter. „Ich hau ab nach Kalifornien. Zuerst dachte ich an Marokko. Aber in Kalifornien haben die Mädels knackigere Ärsche.“ Maskiert wie an der Tür kam er aus dem Badezimmer. „In drei Stunden geht mein Flug. Zuvor krieg ich das komplette Verjüngungsprogramm, bis runter auf zwanzig, und ein neues Gesicht, neue Papiere. Jetzt muss ich aber los… Leb wohl, alter Junge.“ Vor der Wohnungstür machte er kehrt. „Verdammt. Das hätte ich beinahe vergessen.“ Er drückte mir einen abgerissenen Zeitungsrand in die Hand. „Hat mir seine Frau zugesteckt.“

      Die Tür fiel ins Schloss. Ich las:

      „Den Mord habe ich nicht gewollt! Sei vorsichtig!“

      Ich füllte mein Glas und trank es aus. Im nächsten Augenblick wollte ich es nach russischer Art hinter mich werfen. Aber dann goss ich nach und trank, und das tat ich so lange, bis die Flasche leer war.

      Dann schmiss ich mich aufs Bett. Da lag ich. Betrunken, aber hellwach.

      Auf dem Nachttisch erblickte ich den Roman „Der Meister und Margarita“. Warum ist der Teufel nicht im Titel? Er ist schließlich die zentrale Figur der Geschichte. Und auch heute, 70 Jahre später und nicht in Moskau, sondern hier in Berlin ist es ein Teufel, ein Teufel in Menschengestalt.

      Aber was hatte ich damit zu tun?

      Ich begann das Buch zu lesen.

      Mein Gehirn war außer Funktion. Ich begriff nichts, nicht mal die einfachsten Sätze. Dann fiel mir das Buch aus den Händen, ich knipste die Lampe aus und schlief sofort ein.

      Nachdem ich am nächsten Tag beim Frühstück im Radio die Nachrichten gehört hatte, war ich, den Mantel im Gehen anziehend, sofort losgestürmt.

      Niemand soll behaupten, ich hätte es nicht versucht!

      Im Tiergarten hatten sie Abdrucke eines Panthers gefunden und – kluge Köpfchen, meine Kollegen – den Panther des Magiers verdächtigt. Sie suchten ihn auf, er zeigte ihnen das Tier. Der Panther war handzahm, sie hätten ihn streicheln können, außerdem könne so ein Tier unmöglich das Hotel verlassen, ohne bemerkt zu werden...

      Sie hatte vergessen, nach dem Hund zu fragen!

      Eine halbe Stunde später war ich im Polizeipräsidium. Mein ehemaliger Chef bot mir eine Tasse Kaffee an und ein Stück von seinem Lieblingsgebäck: Lebkuchen. Nein, danke, ich war aufgeregt, ich legte los.

      Seinen schläfrig-lauernden Blick unter den dicken Lidern kannte ich, wie oft hatten wir über dieses Krokodil gewitzelt, aber diesmal machte es mich nervös.

      Seine Stimme hatte einen öligen Ton, als er mich unterbrach: „Schon mit dem Krimi angefangen? Sie wollten doch was schreiben … Wissen Sie, wir alle sind mächtig neugierig!“

      Ich bemerkte, ich sei erst seit ein paar Tagen im Ruhestand. Und dann passierte mir ein Witz, aber ungewollt. Ich sagte: Der Hund liege im Hund begraben! Der Panther sei nämlich der Hund! Warum haben die Kollegen nicht nach dem Hund gefragt? Denn wenn der Hund da ist, ist der Panther nicht da. Und wenn der Panther da ist, ist der Hund nicht da. Der Doktor sei ein Manipulator, sagte ich, kein Magier, er besäße die Technik, man müsse die Zauberkabine durch Fachleute, Wissenschaftler prüfen lassen. Der Mann sei ein ungeheuerlicher Verbrecher… genauer gesagt, ein verbrecherisches Ungeheuer!

      Das Krokodil tunkte ein Lebkuchenstück in den Kaffee, biss ab und sagte kauend: „Ja, gute Idee, machen wir, aber sicher. Soll ich Ihnen einen Wagen rufen und der fährt Sie nach Haus? Oder wollen Sie woanders hin?“

      Sein linkes Augenlid ging langsam hoch. Das passiert, wenn er ungeduldig wird, und da war mir klar, es war sinnlos. Die können sich das Unvorstellbare nicht vorstellen, aber ich… ich habe es gesehen.

      Beim Hinausgehen drehte ich mich um und sagte: „Übrigens, der ermordete Journalist ist ein Klon!“

      Er sah mich mit offenem Mund an, aber als ich ein Auge zukniff, lachte er schallend.

      „Sie haben mich die ganze Zeit auf den Arm genommen, was?“

      Ich grinste. Dann ging ich. Ich habe getan, was ich konnte.

      Als ich nach Hause kam, fand ich im Briefkasten den Brief einer ehemaligen Kollegin. Von meinem Abschied hatte sie in einer Hausmitteilung gelesen. Dem Brief lag ein Gruppenfoto aus meiner Ausbildungszeit bei. Ich erkannte jeden, bloß einen jungen Mann nicht. Sehr ernst und korrekt gekleidet in Schlips und Anzug stand er in der letzten Reihe. Wer war das? Darum rief ich sie an.

      Sie lachte, ich sei das.

      Danach saß ich einen Moment wie vor den Kopf geschlagen.

      Ich hatte mich nicht erkannt.

      Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich in der Vergangenheit gewesen bin, wie ich gelebt habe. Ich sah mich bei der Arbeit, erinnerte mich an die Fälle, die ich löste, an jede Einzelheit erinnerte ich mich, aber ich konnte mich nicht sehen und da wurde mir klar, ich wusste mehr über das Aussehen und das Leben der Kriminellen als von mir und meinem Leben.

      Aber jetzt war ich Pensionär. Jetzt gab es nur noch mich. Und ich dachte: Du hast nicht mehr viele Jahre vor dir, alter Mann! Jetzt denk mal an dich, beachte dich, nicht die anderen, achte auf jede Geste, jede Miene und auf jedes Gefühl. Gefühle…

      Wo hatte ich in all den Jahren meine Gefühle gehabt?

      Am nächsten Morgen wachte ich auf mit schwerem Kopf, ich hatte am Abend noch einiges getrunken. Nur langsam kam ich in Gang. Das Gruppenfoto fand ich zerrissen, auf dem Tisch, mitten in einem Sonnenstreifen. Das Auftauchen des Sonnenstreifens an dieser Stelle ist jedes Jahr das Zeichen, dass der Frühling angekommen ist. Ich warf die Fotoschnitzel in den Hausmüll und öffnete das Küchenfenster.