Die letzten Tage des Kommissars. Dieter Lenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dieter Lenz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737565257
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Mordes aufgesucht! Dem Journalisten war die Kehle durchbissen worden. Wie von einem Raubtier. Einem Panther womöglich.

      Und – ich kam wieder zu mir – der Tote war garantiert keine Illusion.

      Ich zahlte und ging auf die Straße. Welch eine Erleichterung, alles an seinem gewohnten Platz zu sehen: die Gebäude, die Autos, die Fußgänger.

      Ich kehrte ins Hotel zurück. Diesmal wollte ich mich nicht überrumpeln lassen.

      Er schien nicht überrascht. Die junge Frau mit Katrins Gesicht saß in dem Sessel, in dem ich zuvor fast ertrunken war, die Beine mit den Lederstiefeln übereinander geschlagen, und sagte mit einem Lächeln:

      „Ich wusste, du kommst zurück!“

      „Nicht Ihretwegen“, sagte ich, „seinetwegen. Ich habe ein paar Fragen an ihn.“

      Sie stand auf und kam zu mir. Das Leder auf ihrer Haut knirschte.

      „Dummer Kerl, warum siezt du mich? Ich bin es! Katrin! Deine Katrin! Gefall ich dir nicht mehr? Das habe ich für dich angezogen. Das ist sexy! Heute darf man das! Hast du vergessen, was wir damals wollten? Wir wollten zu dir. Deine Vermieterin war im Krankenhaus, wir hätten bumsen können, die ganze Nacht! Mein Gott, wie ich es wollte … Und dann kamst du nicht.”

      Ja, sie war es, sie war es wirklich. Ich bekam einen Lachanfall, bis ich mich verschluckte.

      Sie blickte mich erstaunt an.

      Und dieser Blick war es, dieser Blick wischte die 40 Jahre einfach weg.

      Als wäre ich gestern am Bahnhof gewesen und jetzt standen wir uns gegenüber.

      Ich sagte: „Was redest du da! Das war völlig anders! Du kamst nicht. Ich wartete, fast eine ganze Stunde habe ich gewartet.“

      Sie antwortete: „Ich hatte den Zug verpasst, ich musste den eine Stunde später nehmen.“

      Und dann schwiegen wir beide.

      „Mit Handy wäre das nicht passiert“, sagte der Doktor im Hintergrund. Und mit einem kurzen Lachen fügte er hinzu: „Pardon, der Werbespot musste sein.“

      Langsam ging sie zu ihrem Sessel und ließ sich hineinfallen.

      Der Magier kam heran, blieb zwischen uns stehen und sagte sanft: „Wie ärgerlich! Ein Missverständnis. Aber was soll‘s: Ihr habt eine zweite Chance! Ich geb euch eine Nacht. Aber dann müssen Sie, Herr Kommissar, wieder zu dem scharfen Burschen von damals werden. Kommen Sie. Ich werde Sie jetzt verjüngen. Treten Sie ein in meine Zauberkabinen und kommen Sie als junger Mann wieder …“

      „Bitte, tu es!“ hörte ich Katrin sagen.

       Ich betrachtete sie. Knallrote Lippen, künstliche Wimpern, dunkle Augenlider.

      Meine Katrin? Niemals. Eine traurige Lüge, die armselige Hochstapelei einer alten Frau, die sich mit der Wirklichkeit nicht abfinden konnte.

      Sie täte mir leid, sagte ich schließlich, aber ich hätte kein Interesse.

      Sie sprang auf, warf den Kopf in den Nacken und ging aus dem Zimmer.

      Der Doktor wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann meinte er: „Prachtvoller Abgang, was?“

      „Ich habe ein paar Fragen an Sie“, sagte ich.

      „Achja, der Herr Kommissar, er muss seine Arbeit tun. Mann, Sie sind doch pensioniert! Erleben Sie lieber noch was, bevor der große Abgang kommt. Schon gut, ich werde Ihre Fragen beantworten. Gestatten Sie mir zuvor ein paar prinzipielle Bemerkungen. Sehen Sie das Gebäude da drüben? Die Kunstakademie?“ Er zeigte zum Fenster. „Ein Ort der Kreativität. Aber was heißt bei Künstlern Kreativität? Sie äffen bloß die Wirklichkeit nach, und wenn sich ihre Kunst noch so revolutionär gibt, es bleibt im Kern alles beim Alten. Aber wie wäre es, wenn jemand tatsächlich eine neue Wirklichkeit schafft? Der wäre echt kreativ, und der, mein Lieber, bin ich! Ich kann es! Neue Kreaturen, eine neue Schöpfung. Aber sind die Menschen bereit dazu? Nicht mal Sie sind es, Herr Kommissar, und hätten damit doch die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen.. Lieber glauben die Menschen an Magie. Gut, sollen sie es für Illusion halten, ich habe meinen Spaß dabei. Da unten lacht das Publikum und oben lach ich über sie. Zu komisch, was?“

      Ich wollte etwas sagen, er redete sofort weiter:

      „Aber die Zeit kommt, dann wird die Menschheit meine Entdeckung nutzen. Sehen Sie, wie jung ich bin. Dabei bin ich so alt wie Sie. Verjüngen, verwandeln, ja, sogar Totes lebendig machen.. Das kann meine Technik, und diese Technik werden die Menschen eines Tages nutzen, das ist nicht aufzuhalten. Ich bin der Zeit voraus, das ist alles.“

      Was soll das Gerede, dachte ich. Er hat Blut an den Händen. Möge er tausend Mal ein genialer Wissenschaftler sein, er hetzte eine Bestie auf den Journalisten und ließ ihn töten.

      Und darum sagte ich: „Sie lügen. Ihnen geht es in Wahrheit nur ums Geld. Sie haben den Journalisten umgebracht. Er war hinter Ihr Geheimnis gekommen. Und Sie befürchteten, er bringt es an die Öffentlichkeit. Dann wäre Schluss gewesen mit Ihrer Magie! Schluss mit Ihren Vorstellungen! Technik, bloße Technik, was ist das schon, wir haben uns längst an ihre Wunder gewöhnt…“

      Den Kopf schüttelnd, machte der Doktor mehrmals „tzztzzz“.

      „Offenbar habe ich Ihre Intelligenz überschätzt. Mann Gottes! Ich lade einen kleinen Kriminalbeamten ein, mit mir einen Triumph der Wissenschaft zu teilen und er reagiert wie ein Erbsenzähler. Geld! Dass ich nicht lache. Ich kann Millionen aus der Kabine zaubern... Außerdem war das mit dem Journalisten gar nicht meine Idee, sondern Katrins. Ich sollte Sie durch Spurenlegen zu uns bringen. Eine Art Schnitzeljagd. Und sagen Sie selbst: Wie anders als mit einem Mord kann man Ihr Interesse wecken?“

      Wir sahen uns in die Augen. Er lächelte.

      „Eigentlich sind Sie der Mörder, zumindest aber die Ursache des Mordes.“

      Ich nahm den Hut und stand auf.

      „Wissen Sie was? Ich bring Sie in den Knast.“

      „Freut mich.“ Höflich begleitete er mich zur Tür und öffnete sie. „Auf Wiedersehen.“

      In der U-Bahn sieht man stumm vor sich hin, man schwankt mit den anderen im Takt der Bahn hin und her, das Tunnelrauschen ist ein buddhistisches Gebrumm, man versinkt in Trance.

      Und ich sah den Waggon gefüllt von Wesen, die sich verwandelten. In Elche, Hühner, Schmetterlinge. In Rosenstöcke, Bäume, Flüsse und Berge.. In Wesen, wie es sie noch nie gab, mit Eigenschaften, die es noch nie gab.

      Am nächsten Bahnhof entleerte ich meinen Magen in einen Papierkorb.

      Zuhause beruhigte ich mich. Ich sah mir einen Action-Film an. Explosionen, Autojagden, Schießerein. Man sieht es und kommt dabei auf andere Gedanken..

      Dr. Fürst hatte mir sein Geheimnis verraten, weil er wusste, ich kann es nicht an die Öffentlichkeit bringen. Mir würde keiner glauben. Es würde heißen: Guck mal, der Alte hat einen Knacks. Kommt nicht klar mit seinem Ruhestand. Und selbst wenn … Es ist die alte Geschichte. Man hat Indizien, eine perfekte Theorie - aber wo sind die Beweise, wo denn? Indizien sind keine Beweise. Alles nur Spekulationen. Hirngespinste. In den Papierkorb damit.

      Und während ich so halb im Traum nach einem Weg aus der Sackgasse suchte, klingelte es an der Wohnungstür.

      Durch den Spion erkannte ich einen Mann mit Schnauzer, schwarzem Haar, dunklen Brauen. Heller Maßanzug, braunes Hemd, der Schlips ziemlich geschmacklos, ein giftiges Grün. Er hielt in der Hand eine Flasche, eine Sektflasche.

      Ich öffnete die Tür einen Spalt. „Was wollen Sie?“

      Der Mann blinzelte, zog mit der freien Hand langsam den Schnauzer ab, dann die Brauen und als er die Perücke abgenommen hatte, entfuhr mir ein Seufzer.

      Schon wieder was Verrücktes! Der Mann musste sein