Der Mensch schläft mit seinen Wahrheiten
und wacht über seine Irrtümer.
Harald Schmid
Die letzten Tage des Kommissars
An den Polizeipräsidenten Berlin und das Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin
Ja, ich habe getötet, aber es war kein Mord. Nicht im gewöhnlichen Sinne! Also hören Sie auf, nach mir zu fahnden. Lesen Sie meinen Bericht, der wahr ist vom ersten bis zum letzten Wort. Sie werden begreifen, um was es wirklich geht, und Sie erkennen den wirklichen Verbrecher.
Der 31.3. war mein letzter Tag in der Mordkommission, ich wurde verabschiedet, und ehrlich gesagt: ich war froh darüber. Genug Leichen gesehn.
Am nächsten Tag gegen 9 Uhr holte ich meine Privatsachen ab. Da klingelte das Telefon.
„Ich habe was Wichtiges verloren. Helfen Sie mir!“
Ein Aprilscherz. Nicht sehr originell.
„Wenden Sie sich ans Fundbüro“, sagte ich.
Ich verließ das Präsidium um 10.30. Auf dem Weg zur U-Bahn dudelte mein Handy. Dieselbe Stimme, diesmal scharf und scheppernd.
„Man hat mich ermordet, meine Leiche wird es Ihnen beweisen. Also suchen Sie mich gefälligst.“
Ich sagte: „Idiot“ und schaltete das Handy aus.
Am nächsten Morgen, während des Frühstücks, eine SMS: „Meine Leiche liegt im Tiergarten nahe einer Bank, bei einer Eiche.“
Diesmal wurde ich nachdenklich. Immerhin, hier wurden präzise Angaben gemacht. Offensichtlich sollte ich im Tiergarten etwas suchen. Bestimmt keine Leiche. Aber was? Und wer redet so? Die Kollegen fielen aus, so geschmacklos waren die nicht. Vielleicht eine Art Abschiedsgeschenk für mich von „alten Bekannten“ aus dem Rotlichtmilieu. Es gab Spaßvögel unter ihnen.
Erst dachte ich: Lass es! Andererseits: die alte professionelle Neugier! Und da ich nun alle Zeit der Welt zur Verfügung hatte, warum nicht einen Spaziergang durch den Tiergarten machen?
Mantel, Hut und los. Es nieselte. Der erste Tag meines neuen Lebens - und es nieselte. Von meiner Wohnung aus sind es mit der U-Bahn zehn Minuten zum Tiergarten.
Am Brandenburger Tor regnete es. Zum Park war es nicht weit. Eichen gab es, nicht zu übersehen, sie hatten noch braune Blätter vom letzten Jahr. Nirgendwo eine Bank. Also doch ein Telefonstreich.
Wie Sie wissen, geht durch den Park eine Straße mit einer Bushaltestelle, hier wollte ich den Bus nach Haus nehmen. Und da stand eine Steinbank, ungefähr zehn Meter links von der Haltestelle. Hinter ihr, im Gebüsch, eine Eiche.
Falls man mich veräppeln wollte, gab es jetzt heimliche Beobachter.
Ich tat also uninteressiert und blickte nur kurz ins Gebüsch. Zwei Füße in braunen Halbschuhen. Als ich die Zweige beiseite bog, erkannte ich den Toten. Berlins berüchtigtster Klatschjournalist. Seine Kehle war aufgerissen.
Instinktiv wollte ich mich sofort zurückziehen. Zu spät. Eine junge Frau mit ihrem kleinen Sohn kam vorbei und sah mich misstrauisch an.
Nun gut, dachte ich, spielen wir noch einmal Kommissar. Ich rief meine Abteilung an, Lohmeyer dachte wahrscheinlich, ich hätte einen Anfall von Rentnerpanik oder so ähnlich. Während ich auf die Männer wartete, untersuchte ich den Toten. Der verquollene Anzug ließ auf ein längeres Liegen der Leiche schließen. In den Jackentaschen eine Brieftasche, ein Notizbuch und ein Taschenbuch mit dem Titel „Der Meister und Margarita“. Ich blätterte im Notizbuch. Die letzte Eintragung war vor drei Tagen, die Uhrzeit 10.30 und das Wort: Doktor.
Ein Arztbesuch. Ich blätterte zurück.
Drei weitere Arztbesuche und alle innerhalb einer Woche. Ich hörte das Martinshorn und schob bis auf das Buch alles rasch in die Jacke zurück.
Als Lohmeyer und Peters aus dem Wagen stiegen, machten sie nicht grade einen intelligenten Eindruck. Sie starrten mich an wie eine Erscheinung. Ich hatte keine Lust, lange Reden zu halten, zeigte ihnen die Leiche und verschwand im Bus, der gerade ankam.
Nach außen war ich ruhig, aber in meinem Kopf ging es drunter und drüber. Mir wurde warm, ich knöpfte den Mantel auf, dabei stieß ich an das Buch in der Manteltasche. Es war ein Roman von einem Michail Bulgakow, Russe vermutlich.
Mit blauem Filzstift war auf verschiedenen Seiten das Wort „Magier“ unterstrichen, einmal stand „Doktor“ daneben, mit zwei Ausrufungszeichen.
Ich steckte das Buch weg, als mein Blick auf eine Litfasssäule fiel mit einem grellgelben Plakat. Ein Magier namens Dr. Fürst gastiert in Berlin und gibt Vorstellungen im Admiralspalast.
Richtig. Kollege Jan hatte in der Kantine mit großer Begeisterung von diesem Magier erzählt. Einmalige Zauberei, geradezu genial sei das. Ich hatte mich darüber gewundert. Wie kann ein Kriminalist Taschenspielertricks ernst nehmen!
Die Sache mutete abwegig an, aber mir kam der Gedanke, mit dem Doktor im Notizbuch des Toten könnte der Dr. Fürst gemeint sein.
Ich hatte ja nichts zu tun, also besuchte ich die Abendvorstellung.
Der Saal hat 2000 Plätze, alle waren besetzt.
Der Anfang war lustig.
Auf zwei Eisbären kam - wie auf Pferden stehend - der Magier auf die Bühne. Alles, was auf der Bühne geschah, wurde auf eine Videowand übertragen, man sah jede Einzelheit, eine Täuschung war nicht möglich. Es waren wirklich Eisbären.
Der Mann war schlank, schwarz gekleidet, sein Gesicht kalkweiß mit schwarz untermalten Augen. Nicht sehr überraschend. Elegant sprang er von den Bären, trat an die Rampe, hob die Hand. Stille, dann mit dunkler, wohltönender Stimme: „Als ich vor 40 Jahren Berlin besuchte …“
Gelächter. Der Mann konnte kaum älter als 30 sein.
„…war es nachts und bevor der Flieger in Tegel landete, blickte ich durchs Fenster hinab. Da sah ich auf der einen Seite Lichter wie funkelnde Brillanten auf schwarzem Samt, auf der anderen Seite sah es aus wie in einem Keller mit einer Notbeleuchtung. Ein Jammer, dachte ich. Eine gespaltene Stadt.“
Seine Stimme ging in die Höhe:
„Aber was ist Berlin heute? Hätte damals jemand gesagt, diese Stadt wird einmal von Touristen überlaufen sein, ihr Glanz wird den von New York überstrahlen, tja, man hätte ihn für verrückt gehalten. Und doch geschah es, fast über Nacht geschah es. Die Stadt ist heute eine blühende Metropole! Hat da jemand den Zauberstab gehoben und Hokuspokus gemacht?“
Kleine Pause. Dann gab er sich selbst die Antwort: „Nein!“ Und neigte sich zum Publikum, hielt die Hand ans Ohr und sagte: „Oder doch?“ Stille.
Er richtete sich auf.
„Illusion oder Wirklichkeit, das sollen Sie sich heute Abend fragen, wenn Sie nach meiner Vorstellung den Saal verlassen. Zwar steht Zauberei drauf, aber Wirklichkeit ist drin. Sollte ich jetzt aber lügen, so, meine Damen und Herren, seien Sie versichert, dann ist auch das heutige Berlin nur Lug und Trug - und ich rate Ihnen, beim Nachhauseweg Pass und Passierschein bereit zu halten, Sie bekommen sonst an der Mauer Schwierigkeiten!“
Verblüfftes Schweigen, dann Gelächter und schließlich brausender Beifall.
„Ein intelligenter Windhund, dieser Kerl.“ Der Mann neben mir hatte sich in Schale geworfen, dunkler Anzug, rote Fliege auf weißem Hemd, sein Alkoholatem traf mich, als er mir das ins Ohr brüllte.
Trommelwirbel und Fanfarentusch, mit einem Ruck zog der Magier von einem etwa zwei Meter hohen Kubus ein blaues Tuch, eine goldglänzende Metallkabine kam zum Vorschein. Er drückte eine Art Fernbedienung, lautlos öffnete sich die Kabine, mit einer Handbewegung scheuchte er die Bären