„Anna…Was ist dir passiert?“, fragt er vorsichtig.
„Nichts ist passiert. Julian, bitte geh wieder. Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht hierherkommen sollst.“ Ich versuche seinem Blick auszuweichen.
„Ja…Schon, aber…Oh dear…“ Er atmet durch. „Bist du gestürzt? Mit dem Fahrrad? Ist dir das am Heimweg zugestoßen?“
Ich senke meinen Blick. „Nein.“
Er kommt einen Schritt näher, ich sehe wieder auf und schüttle den Kopf. „Geh bitte.“
Plötzlich öffnet sich sein Mund als müsse er nach Luft schnappen, er schüttelt ungläubig den Kopf. „Das war er, oder? Dein Vater…Fuck…“, flüstert er.
„Geh jetzt bitte“, sage ich erneut und schließe kurz meine Augen. Nicht weinen. Nicht weinen. Jetzt nicht.
„Bin ich daran schuld?“ Seine Stimme versagt fast bei diesen Worten.
Ich schüttle den Kopf. „Ich bin selbst schuld. Was willst du denn noch?“, frage ich und merke wie sich immer weiter ein Druck in meiner Brust aufbaut, den ich bald nicht mehr unter Kontrolle haben werde.
„Keine Ahnung…“, murmelt er. „Ich wollte mich entschuldigen…Ich habe dich nicht gut behandelt heute Nacht…Es tut mir leid…“
Er stammelt nach Worten suchend und kann mich dabei nicht mehr ansehen. Ich kann auch nicht mehr, weil mich sein Anblick fertig macht. Mein Bauch tut wieder weh und ich fühle mich nicht klar genug um rationell zu denken.
„Ist schon gut. Du musst jetzt gehen…“, sage ich daher und sehe ihn noch einmal an.
Er nickt nur, seine Augen sehen anders als sonst aus. Überhaupt sieht er heute anders als sonst aus. Unrasiert. Mitgenommen. Erschöpft. Keine Ahnung, ich kann jetzt einfach nicht mehr darüber nachdenken, es ist zu viel.
„Anna…I´m so sorry…“, flüstert er noch während ich mich schon umdrehe.
„Mach´s gut“, ist alles was ich noch herausbringe, dann gehe ins Haus und schließe die Tür hinter mir.
Alles was ich gerade noch hinuntergedrückt habe, kriecht langsam meinen Hals hoch. Tränen laufen über meine Wangen und ich kann vor Schmerz nur schluchzen. Mama kommt aus der Küche und schüttelt den Kopf.
„Geh Anna…Was ist denn los? Das ist doch so ein netter junger Mann.“ Sie nimmt mich in den Arm. „Und gut schaut er aus.“ Sie streicht über meine Wange und lächelt dabei.
Ich zucke mit den Schultern. „Ja…Schon…Es geht halt nicht…“ Meine Stimme ist ganz erstickt von den vielen Tränen.
„Hat er dich so gekränkt?“, meint sie und schiebt mich in die Küche. „Ich mach dir eine warme Milch mit Honig, das hilft immer.“
„Das ist es nicht, ich bin nicht gekränkt, also nicht so schlimm. Es ist, weil es sowieso nichts bringt. Er ist bald weg und ich weiß nicht wie ernst er es meint. Außerdem…Papa wird mich erschlagen…“, murmle ich in mich hinein.
„Jetzt ist er einmal nicht da. Ich kann das nicht mehr mitansehen. Du hast auch ein Recht auf Liebe und du bist doch verliebt, oder?“
Ich nicke zögerlich.
„Dann denk nicht so viel nach, rede noch einmal mit ihm. Schlaf eine Nacht darüber und dann schaust du weiter.“
Wieder nicke ich.
„Julian…“, lächelt Mama. „Schöne Augen hat er…sehr schöne Augen…“
„Ja ich weiß“, seufze ich.
Kapitel 10
Julian
Ich bin nicht gleich zurück zum Herzoghof gefahren. An der Weggabelung musste ich anhalten. Immer noch versuche ich mich zu fangen. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Annas Gesicht. Die Wangen gerötet, unter dem Auge ein blauer Fleck, die Nase aufgeschlagen. Ich kann es einfach nicht glauben. Was ich gerade gesehen habe, übersteigt alles was ich bisher erlebt habe. Ich habe sie gefragt, ob ihr Vater ihr das angetan hat. Sie hat nicht darauf geantwortet, doch ich bin mir sicher. Wie kann man so etwas tun? Ich atme tief durch. Niemals hat mein Vater gegen mich oder meine Schwester die Hand erhoben, selbst wenn es dazu hin und wieder Anlass gegeben hätte. Niemals…Je mehr ich darüber nachdenke umso weniger verstehe ich es. Anna ist so ein besonders Mädchen. Überlegt und keinesfalls rebellisch oder sonst etwas, kein Grund der solch ein Handeln nur Ansatzweise rechtfertigen könnte. Ich möchte nicht, dass ihr jemand wehtut. Ich muss zurück. Sie muss weg von dort, ich kann und darf das nicht hinnehmen. Ich setze den Helm wieder auf und starte die Vespa, doch dann halte ich inne. Er wird ihr wieder wehtun, besonders wenn ich dort auftauche. Es war wohl ein Glück, dass er gerade vorhin nicht zu Hause war. Darum wollte sie nicht, dass ich sie nach Hause bringe oder abhole. Jetzt verstehe ich alles. Ich hätte es spüren müssen und wenn ich jetzt darüber nachdenke macht es auch Sinn. Sie hat wirklich Angst vor ihrem Vater. Ich erinnere mich an ihrem Blick, als sie an mir vorbeifuhren. Da war so viel Verzweiflung, dass es mir augenblicklich fast den Magen umdreht. Aber ihre Mutter ist nett, doch wie kann sie das alles mitansehen, oder gar dulden? Ich verstehe es nicht. Wenn ich sie zumindest anrufen könnte…Sie fehlt mir. Es zieht wieder in meinem Bauch. Ich muss nachdenken. Überlegen. Langsam rolle ich zurück zum Herzoghof. Meine Kumpels sitzen bei einer Flasche Wein vor dem Haus. Es ist ein lauer Abend, nicht so schwül wie die letzten Tage, aber das ist durchaus angenehm. Ich bin an diese schwülheißen Nächte nicht gewöhnt.
„Trinkst du auch ein Glas? Frau Herzog hat ihn vorhin herübergebracht“, fragt mich Sam und zeigt auf den leeren Platz neben ihm.
Mir ist absolut nicht nach Wein und das nicht nur, weil mir der Alkohol der vergangenen Nacht immer noch in den Knochen sitzt. Ich fühle mich mies und von Stunde zu Stunde kommt etwas dazu, dass mich noch mehr fertig macht. Der Kater, Janine, dass ich Anna blöd angemacht habe und sie jetzt auch noch so verletzlich, nein verletzt zu sehen, das halte ich nicht aus.
„Nein…Ich geh schlafen“, murmle ich und gehe an den Jungs vorbei.
„Hat wohl nichts gebracht bei Anna, was?“, ruft mir Daniel nach.
Ich kommentiere seine Frage nicht und gehe direkt auf mein Zimmer. Die letzten Wochen waren toll. Ich habe soviel gesehen und erlebt. Es war lustig und wir haben echt nichts ausgelassen. Dann kamen wir hierher. Es sollte eigentlich nur ein kurzer Abstecher auf dem Nachhauseweg werden, doch jetzt gefällt es uns allen so gut, dass wir noch ein bisschen bleiben wollen. Ein Grund bei mir war Anna. Sie weiß was sie will. Keine Ahnung ob sie mich auch gleich so wollte wie ich sie. Sie war schon ziemlich verschlossen, aber seit heute glaube ich den wahren Grund dafür zu kennen. Ich lasse mich samt Klamotten ins Bett fallen. Es wäre besser sie in Ruhe zu lassen. Ich mache ihr Schwierigkeiten. Ihr Gesicht und die Schmerzen hat sie bestimmt mir zu verdanken. Das will ich nicht…Nein…Ich atme aufgeregt durch und lege dabei meine Hände vors Gesicht. Wenn ich sie nicht gehen gelassen hätte heute Nacht, dann wäre das nicht passiert. Ich seufze tief. Ich kann sie nicht in Ruhe lassen. Es geht einfach nicht. Es ist noch gar nichts passiert zwischen uns außer vielen Küssen und ein paar wundervollen Berührungen, aber das ist auch gar nicht wichtig. Ich weiß, dass ich sie liebe. Gott…kann das sein? So ein Gedanke ist mir noch nie eingekommen. Noch nie. Ich schließe meine Augen und atme ruhig. Mama sagt immer, am Ende wird alles gut und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht zu Ende. „Alles wird gut Anna“, murmle ich und drehe mich zur Seite.