Er machte sich auf Schlimmeres gefasst und betrat die Küche. Niemand da, nur die Schranktüren standen offen.
Das Wohnzimmer sah gut aus, denn sie hatten lediglich die Sofakissen verschoben, und die Türen der geschmacklosen Schrankwand (die seine Frau dort gegen seinen Willen hatte einbauen lassen) waren aufgerissen worden. Beschädigungen waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen.
Er schlich weiter zu seinem Büro, dessen Tür offenstand; inzwischen konnte er davon ausgehen, allein in der Wohnung zu sein. Die Einbrecher hatten ihn verpasst.
Das Arbeitszimmer hatte am schlimmsten gelitten; vermutlich waren sie wütend geworden, weil sie weder den Geldkoffer noch das Notebook gefunden hatten. Herausgerissene und auf den Boden geworfene Schreibtischschubladen, die Tischplatte war leergefegt, ein Aktenschrank aufgebrochen, sein Inhalt auf dem Boden verstreut. Dann stockte ihm der Atem.
Sein Computer war weg!
Das war zweifellos der größte Verlust. Da drinnen befand sich sein halbes Leben, beruflich wie privat. Online-Banking, Kreditkarten, Urlaubs-Blogs, Fotogalerien, Korrespondenz, vieles davon ungesichert, anderes mit so einfachen Passwörtern versehen, dass sie für Fachleute kaum ein ernsthaftes Hindernis darstellen würden. Wenn sie mit diesem Rechner fertig waren, wussten sie mehr über ihn als er selbst.
Er wühlte in den Papieren und fand wenigstens seine aktuelle Karte mit den Tans für Banküberweisungen, ging ins Wohnzimmer an den Bücherschrank und suchte in dem Roman Der Idiot von Dostojewski die Passwortliste, die er für eine solche Situation dort versteckt hatte. Seinerzeit hatte er es lustig gefunden, diese Liste ausgerechnet in diesem Titel zu verstecken. Sie war noch da, er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Vielleicht war noch etwas zu retten von seiner elektronischen Existenz.
Im Schlafzimmer hatten sie die Matratzen umgedreht, einen Teil seiner Kleidung auf dem Boden verstreut und dabei eine kleine Rolle mit Notgeld übersehen, die er unter seinen Boxer-Shorts versteckt hatte. Im angrenzenden Badezimmer schien alles unberührt zu sein.
Er ging zurück in die Küche, holte einen Hocker und kehrte zurück ins Schlafzimmer. Oben auf dem Schrank stand ein Schuhkarton, in dem sich seine 38er Automatik befand. Die Gangster hatten sie ebenfalls entdeckt, sie aber an Ort und Stelle gelassen; der Staub auf dem Karton war weggewischt worden.
Er überlegte, ob er sie mitnehmen sollte, legte sie aber zurück an ihren Platz. Er wollte niemanden erschießen, nicht einmal damit drohen. Die Waffe hatte drei oder vier Jahre dort oben geruht – so lange lagen seine letzten Schießübungen zurück. Cord war nicht einmal sicher, dass sein Waffenschein noch gültig war.
Ziellos und ohne nachzudenken warf er Rasierzeug, Duschgel und Zahnbürste in sein Necessaire, ging damit ins Schlafzimmer und begann, die ihm verbliebene Reisetasche zu packen (die beiden Koffer hatte seine Frau beim Auszug mitgenommen, ohne ihn zu fragen). Zwei paar Hosen, zwei T-Shirts, knitterfreie Hemden, Socken und Unterwäsche, eine leichte Windjacke, das war‘s. Er musste weg von hier, bevor ihn diese Leute ein weiteres Mal aufsuchen würden.
Aber wohin? Er konnte niemanden mit dieser Geschichte zur Last fallen, das wäre zu gefährlich. Wenn sie seinen Computer filzten, hätten sie seine Freunde und Bekannten schnell identifiziert.
Ein Hotel? Wer wusste, wonach er suchen musste und über ein paar Kontakte verfügte, würde ihn auch doch in kürzester Zeit aufspüren.
Also raus hier, auf die Straße, unter Menschen!
Und dann sollte er schleunigst aus der Stadt verschwinden; das war vermutlich sein einziger Schutz.
Er hatte es immer wieder verschoben, sich einen Laptop zuzulegen; zu teuer, unnötig, hatte er argumentiert. Jetzt hätte er einen gebrauchen können.
Aber ich habe doch einen!
Er lag zuoberst in dem geklauten Aktenkoffer. Wenn er aus diesem Ding schlau würde, wäre einiges gewonnen. Er konnte seine Passwörter ändern, vorausgesetzt, es war nicht zu spät.
Im Flur stopfte er noch ein paar Ersatzschuhe in seine nur zur Hälfte gefüllte Tasche und verließ die Wohnung. Er würde sie nicht mehr wiedersehen, sein Schicksal sollte ein anderes sein.
3 Constanta, Rumänien
Das geschäftige Treiben in dem neuen großen Frachthafen Agigea vor Constanta, im rumänischen Teil des Schwarzen Meeres gelegen, klang dumpf bis hoch in die Messe des Schiffes, wo Kapitän Jannis Metaxas saß und eine Schale Obst verzehrte, die der Schiffskoch ihm zubereitet hatte. Viel mehr als Obst und Brei konnte er zuletzt kaum noch zu sich nehmen. Er hatte Probleme mit einer chronischen Entzündung der Bauchspeicheldrüse, und ein schwerer Leberschaden hatte seiner Haut und seinen Augen eine nicht mehr zu übersehende gelbliche Färbung verliehen.
Obwohl er tatsächlich einer war, stellte man sich einen alten Seebären anders vor. Er trug keinen weißen Vollbart, sondern war glattrasiert. Auch hatte er keinen gemütlichen Bierbauch vorzuweisen, im Gegenteil: Er war mager bis auf die Knochen, eine Folge seiner Erkrankung, die ihn früher oder später (eher früher) umbringen würde. Selbst das Obst, das er gerade zu sich nahm, enthielt viel zu viel an aggressiven Säuren und tat ihm nicht gut.
Die Zollbeamten hatten das Schiff verlassen, bevor er sie vollends betrunken machen konnte; in einer halben Stunde konnten sie ablegen und ihre Fahrt in Richtung Varna fortsetzen, dem nächsten Etappenziel einer langen Reise, die ihm und seiner Mannschaft bevorstand.
Er hatte große Mengen an Kunstdünger gebunkert, die er in Namibias Tiefseehafen von Walvis Bay löschen sollte (Anscheinend wollte sich dort jemand mit einem respektablen Sinn für Humor daran machen, die Wüste zum Blühen zu bringen.).
Hätte der Kapitän nicht die zwei Zollbeamten, die er seit vielen Jahren kannte, so großzügig für ihre vorübergehende Erblindung entlohnt, wäre ihnen sicher ein anderer Teil der Fracht aufgefallen, der sie hätte staunen lassen. Im Unterdeck des Frachters waren einhundertsechzig übergroße Holzkisten verstaut, die verplombt waren und das Siegel der rumänischen Armee trugen. Und wenn man genauer hinsah, entdeckte man auf längst vergilbten Aufklebern, die einst an die Kisten gepinnt worden waren, dass diese schon vor fünfzehn Jahren verschlossen und eingelagert worden waren, bis sie nun plötzlich wieder zu neuem Leben erwachten.
Jannis wusste nicht einmal genau, für wen all dieses Gerät letztlich gedacht war (irgendein kongolesischer Rebell, vermutete er, aber es interessierte ihn auch nicht sehr).
Er würde noch ein paarmal anlegen, und dann diese Ladung ein Stück die Kongomündung hinauf löschen. Der Empfänger zahlte Unsummen für diese Waffen, und der Kapitän würde seinen Anteil daran erhalten. Es waren nur Strolche, die sich gegenseitig massakrierten, und würde er ihnen diese Waffen nicht bringen, täte es ein Anderer.
Wäre sein Reeder nicht so ein knausriger Dieb, hätten seine Angestellten so etwas nicht nötig gehabt. Aber er war nun mal einer, und das hatte dazu geführt, dass sich seine Schiffsführer bereits seit vielen Jahren dazu genötigt fühlten, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Das war kriminell, aber beinahe jeder tat es, und das beruhigte nach und nach das eigene Gewissen.
Er hatte drei Söhne, und wenn er ehrlich zu sich war, dann waren alle drei handfeste Taugenichtse, was er auch dem Umstand zusprach, dass ihr Vater elf Monate im Jahr auf See gewesen war, während sie aufwuchsen. Die beiden Ältesten waren inzwischen verheiratet und hatten ihm – bis jetzt - drei Enkel beschert, die sie sich nicht leisten konnten; der Jüngste wohnte noch zuhause und hatte nicht einmal eine Freundin. Seine Frau und er hatten schon den Verdacht geäußert, dass er vielleicht schwul sein könnt; aber sie hatten es nie gewagt, ihn darauf anzusprechen. Der Junge war cholerisch und ging viel zu oft und viel zu schnell an die Decke. Aber egal, er war ihr Junge, sie befürchteten nur, und zwar zu Recht, dass er es in einer griechischen Kleinstadt auf dem Peleponnes nicht leicht haben würde, wenn er sich eines möglichst fernen Tages zu seiner Homosexualität (zu seiner möglichen Homosexualität, sie hofften immer noch das Beste) bekennen sollte.
Drei