Normalerweise hätte er heute Abend Taekwondo-Training gehabt, dachte er beiläufig. Er würde zum ersten Mal seit der Geburt seiner jüngsten Tochter fehlen, ohne vorher abgesagt zu haben.
Er hatte als Kind ein frühes Erweckungserlebnis gehabt, das ihn dazu antrieb, nach und nach verschiedene Kampfsportarten zu erlernen. Es hing mit seinem Vater zusammen, der ein ziemlich radikaler Linker gewesen war und der keine Demonstration, kein Sit-In, keine Blockade oder was auch immer ausgelassen hatte, solange er noch gesund genug dazu gewesen war.
Auf einer dieser Demos – Cord war zu dieser Zeit noch keine zehn Jahre alt – passierte es: Eine militante Nachfolgeorganisation der längst verbotenen faschistischen Wehrsportgruppe Hoffmann fiel an diesem Tag über ein kleines Grüppchen friedlicher Demonstranten her, die gerade gegen irgendetwas protestierten, was Cord inzwischen vergessen hatte.
Seinen Vater erwischte es besonders schlimm, denn sie knüppelten ihn vor den Augen seines kleinen Sohnes nicht nur zu Boden, sondern traten ihn mit ihren schweren Springerstiefeln noch zwei oder dreimal gegen den Kopf, wonach er ins Koma fiel und erst nach vier Tagen in der Universitätsklinik wieder zu sich kam.
Noch am Krankenbett schwor sich ein kleiner wütender Cord, dass ihm so etwas nie, nie, nie im Leben passieren würde, und als sein Vater wieder zuhause war, bekniete er beide Elternteile so lange, bis sie ihn zu seinem ersten Judo-Kurs anmeldeten.
Der Rest war Geschichte, in seinem anhaltenden Zorn und seiner immer weiter glühenden Wut verbrachte er Jahre damit, immer neue Kampfstile zu erlernen, bis er zu Beginn seines Studiums bereits vier verschiedene Gürtel besaß und auf Länderebene zu Wettkämpfen antrat.
Aber er sollte jetzt an andere Dinge denken. Gegen die Kugel eines Attentäters konnte er mit all seinen Kampfkünsten nichts ausrichten. Deshalb waren jetzt auch nicht Mut oder Verwegenheit gefragt, sondern höchste Achtsamkeit und strategisches Denken.
Während er erschöpft für einen Moment wegdämmerte, sich in der Halbwelt zwischen Wachen und Schlafen befand, zogen Bilder vor ihm auf, Bilder von seinen Kindern, wie sie irgendwo am Wasser spielten, wie sie lachten und sich gegenseitig ihre Eimerchen voll Wasser über dem Kopf ausschütteten; er sah seine Ex-Frau, die ihnen mit gerunzelter Stirn dabei zusah und ihm einen bösen Blick zuwarf, weil er nicht einschritt. Aber vom Wasser driftete sein Verstand unversehens zu Haien, die von oben gesehen nur Schatten unter der Wasseroberfläche waren, aber er wusste ganz bestimmt, dass es Haie waren. Die Szenerie wechselte erneut und er sah seine Frau mit ihrer jüngsten Tochter auf der Aussichtsplattform des Empire State Building stehen, sein Verstand protestierte dagegen, weil das Bild nicht real war. Sie hatten das einmal geplant, vor gar nicht langer Zeit, aber sie hatte es ihm mit dem Hinweis auf ihre angespannte finanzielle Lage ausgeredet. Zu Recht - oder auch nicht. Wer konnte das am Ende sagen?
Er setzte sich ruckartig auf und war wieder ganz im Hier und Jetzt seiner elenden Lage. Es waren kaum fünf Minuten gewesen, die er geschlafen hatte, aber er hatte das Gefühl von etwas sehr Wichtigem mitgenommen, wenigstens schien es ihm jetzt so. Aber was war es gewesen?
Die Kinder, die Haie und New York…
Amerika!
Er könnte sich für eine Weile in die USA absetzen, morgen schon, wenn er nach Berlin durchfuhr und einen Flug fand. Er kannte sich dort aus, war oft genug mit Mietwagen durchs ganze Land gereist und hatte mehr davon gesehen als der durchschnittliche Amerikaner je sehen würde.
Und – Amerika war groß, sogar sehr groß. Er würde sich dort eine Zeitlang verstecken können und hoffen, dass die Leute, die hinter ihm her waren, eines Tages das Interesse an ihm verloren.
Der Zug hielt für ein paar Minuten in Leipzig, und seine Sehnsucht nach einer Zigarette war so groß, dass er sein Abteil für kurze Zeit verließ und aus dem Zug stieg. Dabei konnte er durch das Fenster des Waggons sein Gepäck im Auge behalten.
Er besaß aus dem letzten Jahr noch eine ESTA-Erlaubnis zum visafreien Antritt einer Reise in die Vereinigten Staaten. Sie war zwei Jahre gültig und war Überbleibsel vom vergangenen Dezember, als er für sich und die Familie in der Vorweihnachtszeit einen Städte-Trip nach New York geplant hatte. Die Mädchen bekamen für diese Reise sogar ihre ersten richtigen Reisepässe, aber zuletzt scheiterte die ganze Sache eben am Geld.
Aber dieser damals vertanen Gelegenheit nachzutrauern war jetzt nicht die Zeit. Sein kurzer Traum hatte ihm vielleicht ein Stichwort geben wollen. Er stieg zurück in den Zug und begann nach Flügen zu suchen. Eigentlich eine Schnapsidee, aber angesichts des Unfugs, den er heute schon angestellt hatte, kam es darauf nicht mehr an.
Erst eine halbe Stunde vor der Ankunft in Berlin kam er dazu, sich um den eigentlichen Inhalt des Notebooks zu kümmern. Er klickte hier und da, er las Excel-Dateien und Mails, fand Gesprächsnotizen und einiges mehr. Er stocherte wahllos herum, und sein Mut sank von Minute zu Minute. Absurd, sogar surreal, in was er da hineingeraten war. Wenn er die Dinge nach oberflächlicher Lektüre richtig verstand, ging es bei dem blutigen Anschlag im Zoo um ein Waffengeschäft zwischen einem Warlord im Osten des Kongo und… ja, wer war eigentlich die andere Seite?
Der Detektiv fand eine ganze Reihe von Mails, in denen Dinge besprochen wurden, die er nur teilweise verstand. Orte wie Plovdiv in Bulgarien, Häfen wie Varna und Constanta am Schwarzen Meer wurden erwähnt, ebenso wie der kleine sizilianischer Hafen von Syrakus, wo etwas übergeben werden sollte. Und immer ging es um Waffen, die Art der Verschiffung dieser Waffen, um Geld und um Diamanten, teilweise von Natur aus blau und rosa eingefärbte Diamanten, die angeblich seltener und teurer waren als gewöhnliche Edelsteine.
Auch deren Transportwege wurden diskutiert und verworfen, Mittelsmänner namentlich oder mit ihren Spitznamen (die offenbar jeder an dieser Sache Beteiligte kannte) erwähnt, eine Hafenstadt in der Kongo-Mündung war Ziel von etwas, das gelegentlich auch nur als Ware bezeichnet wurde. Dokumente waren erstellt, ausgedruckt, eingescannt und archiviert worden. Es ging um die ganze Wertschöpfungskette bei diesem Geschäft, vom afrikanischen Rebellen, der eine Diamantmine in der Nähe des Kivu-Sees kontrollierte, bis hin zu Diamantschleifern in Antwerpen, Amsterdam, London und New York, die nur halblaute Fragen nach der Herkunft der Steine stellten.
Und es ging immer wieder um Geld. Bestechungsgeld hier, Geld für den Transport dort, Geld überall. Als Cord kurz vor Berlin erschöpft aufgab und den Laptop ausschaltete, wusste er in allergröbsten Zusammenhängen Bescheid. Aber er hatte bisher nur an der Oberfläche gekratzt, das ließ sich schon jetzt sagen.
Er war bei einem kriminellen Waffendeal zwischen die Zahnräder einer längst laufenden Maschinerie geraten; was er an Bargeld und Wertpapieren bei sich trug, war wohl als Provision für die sogenannten D.C.-Leute gedacht; um wen es sich da genau handelte, konnte er noch nicht sagen, aber eines der Dokumente trug den digitalen Stempel eines ihm unbekannten Ministeriums oder Institutes der Vereinigten Staaten. Das alles war rätselhaft und beunruhigend. Die Leute, deren Geld er gestohlen hatte, drehten ein ziemlich großes Rad, und sie waren dabei nicht zimperlich.
Als der Zug mit einigen Minuten Verspätung in den Berliner Hauptbahnhof einfuhr, stieg ein von den Ereignissen des Tages mitgenommener Cord Hennings aus. Er sehnte sich nach einem Bett und einer Nacht erholsamen Schlafes, die er aber kaum bekommen würde.
Das Ladekabel nicht vergessen!
Er war auf das Notebook, das ihm nicht gehörte, angewiesen, und vor wenigen Minuten, kurz vor Ankunft des Zuges, war sein Ladestatus bei unter zehn Prozent gewesen. Er ging vom Gleis aus direkt zu einem Informationsschalter, wo ihm eine hilfsbereite Dame nach ein paar Anrufen zwei Elektro- bzw. Computerläden nannte und den kurzen Weg dorthin beschrieb.
Um halb zehn besaß er ein neues Kabel und hatte einen halben Döner gegessen, den er mit Dosenbier herunterzwang; Aufregung und die Hitze schlugen auf seinen Appetit, selbst um diese Stunde war es noch fast dreißig Grad warm, wie das Thermometer über dem Eingang einer Bank behauptete. Aber Cord würde schwerlich noch irgendwo hinkommen, wenn er nicht wenigstens ab und zu etwas aß. Essen