Er hatte vor einigen Tagen versucht, sie darauf anzusprechen, aber sie hatte nur gesagt, er solle sie nicht zum Sprechen drängen. Sie genieße es, einmal nicht ständig gehorchen zu müssen, oder zu etwas genötigt zu werden, was sie nicht wollte. „Ich werde mit dir reden, wenn ich soweit bin. Ich bin dir dankbar für die Chance, die du uns gibst, aber ich brauche Zeit.“
Dazu gab es nicht viel zu sagen. Und er musste zugeben, dass trotz ihres ausdauernden Schweigens ihre Beziehung an Nähe und Vertrautheit gewann. Es fehlten nur die Worte, aber die wurden oft genug überschätzt. Manche Menschen redeten nur, weil sie Angst vor Stille hatten; er kannte mehr als genug von ihnen.
Aber ab und zu lag er nachts für längere Zeit wach, lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen und erinnerte sich dabei an ein Sprichwort, das er vor langer Zeit einmal gehört hat. Es ging ungefähr so: Auch wenn zwei Köpfe auf demselben Kissen ruhen, müssen sie noch lange nicht dieselben Träume haben. Das war wohl gut beobachtet.
2 Frankfurt am Main
Er wagte es lange nicht, das Lokal zu verlassen und nach Hause zu gehen. Fieberhaft suchte er nach einer Erklärung für das, was geschehen war.
Zur Polizei konnte er nicht gehen, die würde ihn zunächst einmal einlochen, wegen Verlassens eines Tatortes, wegen Diebstahls - und vielleicht sogar wegen des Verdachts auf Beihilfe zu einem zweifachen Mord.
Wenn das geschah (selbst, wenn er straffrei aus dieser Nummer herauskam), dann würde seine Ex-Frau dafür sorgen, dass er die Kinder höchstens noch zweimal im Jahr und das auch nur von weitem zu sehen bekam. Sie würde es mit seiner Verantwortungslosigkeit begründen, und er hätte angesichts seiner unpassenden Handlungsweise am heutigen Tag einen schweren Stand damit, sie zu widerlegen. Wer einem Kapitalverbrechen beiwohnte und wem danach nichts Besseres einfiel, als die noch warmen Leichen zu bestehlen, konnte keinen guten Einfluss auf ein sieben- und ein fünfjähriges Kind ausüben, und so weiter.
Wer war wer in diesem Schlamassel? Seinen Albino hatte er im Zoo nicht gesehen. Also wer war der Kardinal, wer waren die beiden Attentäter? Worum ging es hier?
Er dachte nach, aber schon nach kurzer Zeit musste er seine Anstrengungen aufgeben – es gab zu viele Unbekannte in dieser Gleichung. Diebe, Agenten, die Mafia; der Möglichkeiten gab es viele, zu viele für seinen müden Verstand.
Woher wussten die Attentäter die genauen Koordinaten dieser Übergabe? Sie mussten schließlich schon vor Ort gewesen sein, als der Bulgare ankam. Hatten sie ein Telefonat belauscht, in denen Papst und Kardinal sich verabredeten? Wenn ja, warum konnten sie das so einfach tun?
Der Gang zur Polizei schien ihm immer weniger erfolgversprechend. Er war in etwas hingeraten, das mindestens eine Gewichtsklasse zu hoch für ihn war. Er hätte die Finger von der Sache lassen sollen. Er hätte es wissen können. Er hätte nach den Schüssen abhauen sollen, wie jeder geistig gesunde Mensch es getan hätte. Wer bezahlte schon sechstausend Kröten für ein paar Fotos?
Konnte er gefahrlos nach Hause zurückgehen? Hatte sein Auftraggeber den Inhalt des Koffers gekannt? War er scharf darauf gewesen? Würde er jemanden schicken, damit er ihm das Geld wieder abjagte?
Damit war zu rechnen.
Und was war mit dem Notebook? Enthielt es brisantes Material? Gab es zwischen diesem Material und dem Inhalt des Koffers einen Zusammenhang? Wahrscheinlich war das so, die beiden Männer hatten wild gestikulierend auf den Bildschirm gezeigt und über etwas gestritten, kurz bevor sie aufstanden und die Schüsse fielen.
War das Geld vielleicht nicht das einzige Motiv für dieses Blutbad gewesen? Andererseits waren sechs Millionen durchaus ein Motiv, Laptop hin oder her.
Der Alkohol begann, sein Denken zu verlangsamen; er hatte heute Morgen nicht einmal gefrühstückt.
Er blickte auf die Uhr und staunte darüber, in welch kurzer Zeit er es geschafft hatte, sein unscheinbares, aber halbwegs geordnetes Leben gegen die Wand zu fahren; seit dem Anruf des verrückten Iren waren noch keine vier Stunden vergangen. So etwas nannte man wohl Effizienz.
Er packte den Laptop zuoberst auf das Geld und die Wertpapiere, und der Koffer ließ sich gerade noch schließen. Noch hatte er das Geld nicht angerührt, er hatte vielleicht sogar die Chance, es dem Albino (oder wer auch immer der Besitzer war) zurückzugeben. Aber würde man ihn verschonen, soweit, wie Cord sich in seiner grenzenlosen Weisheit in Angelegenheiten eingemischt hatte, die ihn nichts angingen?
Du bist fast dreiundvierzig, mein Freund, dein Konto ist chronisch schwindsüchtig, und es ist keine Änderung in Sicht. Was meinst du, wann du das nächste Mal sechs Millionen Dollar zu Gesicht bekommen wirst?
Mit einem Vermögen wie diesem konnte man weit kommen. Es musste umsichtig genutzt und vielleicht ein bisschen gewaschen werden, damit es nicht mehr so sehr nach Verbrechen roch, aber danach konnte man sich ohne weiteres zur Ruhe setzen und auf einer Insel im Südpazifik mit einem Cocktail in der Hand den Sonnenuntergang genießen. Es war verlockend.
Aber der Weg dahin war steinig und gefährlich, ein einziger Fehler, und er würde nirgends mehr die Sonne sehen, weder morgens noch abends. Und um ganz ehrlich mit sich zu sein, die Südsee oder die Karibik würden ihn schnell langweilen, und außerdem wäre es dann endgültig vorbei damit, seinen Kindern nahe und ihnen beim Heranwachsen ein Freund zu sein, auf den sie bauen und auf den sie stolz sein konnten.
Er rief die Kellnerin an seinen Tisch und bezahlte die Getränke - mit seinem eigenen Geld, worauf er trotzig Wert legte.
Draußen sprangen ihn die gleißende Helligkeit und die Mittagshitze an wie ein übellauniges Raubtier mit Mundgeruch. Er blickte sich um und sah am Straßenrand ein Taxi, aus dem gerade ein Fahrgast ausstieg. Er winkte den Fahrer heran, ließ sich samt des Koffers auf die Rückbank fallen, und nannte dem Fahrer sein Ziel; der schaltete den Taxameter ein, wendete und fuhr los. Es war wenig Verkehr auf den Straßen der Stadt, die Hitze fesselte die Menschen an ihre schattigen Wohnungen oder Büros, und wer konnte, war im Schwimmbad oder hatte die Stadt in Richtung Taunus verlassen, wo es nicht ganz so heiß und schwül war.
Er ließ den Taxifahrer fünfzig Meter entfernt von seinem Haus halten, bezahlte und stieg aus; vor Anspannung hätte er beinahe vergessen, den Koffer mitzunehmen.
Er konnte von weitem sehen, dass die Stühle und Bänke der Kneipe neben dem Haus leer waren; zumindest dort schien niemand auf ihn zu warten. Er kam zur Eingangstür und eine Nachbarin, die gerade ihre Post aus dem Briefkasten fischte, grüßte ihn unfreundlich. Sie wusste von seiner Scheidung und nahm sie ihm übel, ohne die Hintergründe zu kennen. Es sei denn, seine Ex-Frau hatte sie mit Tratsch aus ihrer Ehe auf ihre Seite gezogen, was er neuerdings nicht mehr ausschließen konnte.
Er ignorierte den ungnädigen Tonfall, grüßte übertrieben freundlich zurück und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Immerhin schien niemand bei ihr geklingelt und nach ihm gefragt zu haben; in seiner Lage war man auch für Kleinigkeiten dankbar.
Aber dass hier etwas passiert war, merkte er, als er im vierten Stock den Aufzug verließ und an seine Wohnungstür trat.
Die Tür war nur angelehnt!
Er hatte sie mit Sicherheit nicht offen gelassen, als er heute Vormittag aufgebrochen war. Er war in Eile gewesen, aber so etwas passierte ihm nicht.
Ihm wurde heiß, er stand regungslos da und versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Es war nichts zu hören. Was, wenn sie den Lift gehört hatten und ihn drinnen erwarteten? Die Tür mussten sie professionell geöffnet haben, er sah keine Kratzer am Schloss und auch keine anderen Anzeichen gewaltsamen Eindringens.
Er wartete zwei volle Minuten und hielt immer wieder kurz den Atem an, um zu lauschen. Außer den gedämpften Lauten der Straße war nichts zu hören. Er tippte die Wohnungstür mit dem Zeigefinger an und öffnete sie einen Spaltbreit. Zu wenig, um etwas sehen zu können. Er nahm die ganze Hand und drückte die Tür ein großes Stück weit auf. Im Flur war nichts zu sehen… oder doch?
Er tat einen Schritt in die Wohnung und hielt erneut inne. Schon von hier aus konnte