Das Mädchen lief rot an. Noch nie zuvor wurde die unauffällige Putina von ihrer Lehrerin zurechtgewiesen. Sie wusste nicht, ob sie vielleicht gegen das Traumverbot verstoßen hatte und spürte Panik. Ihr hatte vorher niemand gesagt, dass sie die Brutflaschen nicht schräg betrachten durfte, und sie hatte dabei doch gleichzeitig dem stellvertretenden Klon- und Prägungsdirektor gehorsam zugehört, wie es von ihr verlangt wurde. An dieser Stelle der Förderanlage wurden die Hormone zugesetzt, mit denen die Körpergröße der späteren Erwachsenen bestimmt wurde.
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Obwohl sie gut zugehört hatte, widersprach Putina der Lehrerin nicht. Sie wollte nicht noch mehr auffallen. Seitdem wusste sie, dass sie die Dinge anders wahrnahm, als sie wahrgenommen werden sollten, und mit jedem Monat, den sie älter wurde, spürte sie einen inneren Widerstand dagegen in sich heranwachsen. Das machte ihr Angst.
Vor noch nicht einmal einem Jahr hatte sie erlebt, wie der siebenjährige Slobodan aus ihrer Klasse abgeholt wurde. Wegen abweichender Prägung, so versuchte es die Lehrerin zu erklären. Putina konnte sich noch daran erinnern, wie er nur einen Tag davor zunächst dem Sport-Lehrer und in der nächsten Stunde auch noch der Einheitskunde-Lehrerin widersprochen hatte. Ziemlich höflich hatte er seine Lehrer auf einen Widerspruch in ihrem Unterricht hingewiesen und ihn sogar als Frage formuliert. Doch Putina hatte Slobodan seitdem nie wieder gesehen.
Sie glaubte jetzt krank zu werden, wenigstens ein wenig. Sie hoffte, dass es nicht so schlimm wie bei Slobodan werden würde und es mit der Zeit von alleine wieder verschwinden werde. So verhielt sie sich weiter unauffällig.
Arnold Wankel goss sich ein großes Glas kaltes Leitungswasser ein, um Klarheit in seinen noch immer dröhnenden Kopf zu bekommen. Er hätte nur ein Gramm Isodol-Zwei nehmen müssen und keine zehn Minuten später wäre er gut gelaunt und voller Elan an seine Arbeit gegangen. Aber Arnold hatte keine Lust auf das neue, aufputschende, schmerzstillende und stimmungsaufhellende Kügelchen. Isodol-Zwei - alle schworen jetzt auf Isodol-Zwei. Und die Psychologen verordneten Isodol-Drei, das medizische Isodol, wenn nichts mehr half. Gaga-Isodol nannten es viele hinter vorgehaltener Hand. Arnold überzeugten auch die neuen Isodol-Sorten nur wenig und mit jedem Tag immer weniger. Wenn er Isodol-Vier nahm, litt er meistens unter dem Gefühl, dass es irgend einen wichtigen Teil seines Gehirns einschläferte statt ihn aufzuwecken. Aber Isodol-Vier sollte doch glücklich und wach machen und nicht glücklich und entspannt wie Isodol-Drei. Vielleicht war das bisher nur ihm aufgefallen, denn er hatte nie jemanden darüber reden hören. Viel angenehmer als Isodol-Vier fand er es, nach einer lauwarmen Dusche einen Spaziergang zu machen und zu spüren, wie sich der Kater des Vortages von allein verzog. Dieser Kater war nicht wirklich schmerzhaft, lediglich ein leichtes Rauschen zwischen den Ohren mit einem leichten Schwindel und keine Folge des Alkohols. Dieser hatte schon lange keine Nebenwirkungen mehr. Es war heute vielmehr ein gestörter Flüssigkeitshaushalt, Muskelverspannungen und der Schlafmangel der langen Neujahrsfeier, die ganze zwanzig Stunden gedauert hatte. Er konnte sich nicht mehr an alles erinnern.
Immerhin wusste er noch, dass nun die Sechzigerjahre begonnen hatten, das Jahr 760 nach Chicago. So hieß die neue Zeitrechnung. Chicaco war für Arnold ein sehr abstrakter Begriff. Er wusste natürlich aus der Nachtschule, dass die Fließbandarbeit damals in den Chicagoer Schlachthöfen erfunden wurde. Es war eben nicht jener Herr Ford, wie dies die Anhänger der Geschichtsfälschung noch viele Jahre lang behauptet hatten. Zum Glück wurde dieser Irrtum in der großen Kulturrevolution vor fast achtzig Jahren korrigiert.
Die Sechzigerjahre begannen jetzt also. Als Kind hatte er bestimmte Vorstellungen über die Zukunft und die Sechzigerjahre waren für ihn immer ferne Zukunft gewesen – unerreichbar fern. Die meisten seiner Vorstellungen der Zukunft stammten aus den Science-Fiction-Filmen, die er in Emo-Kinos erlebt hatte. Er sah dort die gleiche schöne Welt, in der er bereits lebte, jedoch in vielen kleinen Details noch ein wenig perfekter und schöner. An viele seiner damaligen Visionen der Zukunft konnte er sich nur noch verschwommen erinnern. Woran er sich aber jedes Mal ganz deutlich erinnern konnte, war ein dumpfes Gefühl in seinem Kopf, und das nach jedem Kinobesuch, ganz ähnlich wie sein momentaner Kater.
Damals waren die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht in allen Emo-Kinos eingebaut. Die Emitter sorgten während der Filmvorführung dafür, dass die Emotionen der Zuschauer nicht zu stark wurden. Niemand sollte zu begeistert, womöglich deprimiert oder nachdenklich das Kino wieder verlassen. Am Anfang funktionierten die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht so zuverlässig wie heute. Aber man erzählte sich, wie gefährlich es sein konnte eins der älteren Kinos zu besuchen, die nur schwache Beruhigungswellen-Emitter besaßen. Eines Tages soll nach einem sehr aktionsgeladenen Film ein junger Zweier-Minus geglaubt haben, er könne unverletzt sechs Stockwerke tief auf eine Aussichtsplattform herunterspringen. So hatte er es im Film gesehen. Ein breitschultriger Eins-Plus rettete im Film unzählige Einser, Zweier und Dreier, indem er von Hochhaus zu Hochhaus sprang und dabei blaue Invasoren aus dem Weltall mit bloßen Händen erschlug. Der Zweier starb bei seinem Versuch den Filmhelden nachzuahmen.
Seitdem die Beruhigungswellen-Emitter vorgeschrieben waren, hatte es keinen solcher Unfälle mehr gegeben. Zumindest war keiner mehr bekannt geworden. Gut bekannt war aber jedem die Wirkung der Wellen in Filmen, in denen die Emitter besonders intensiv arbeiteten. Das war immer während sehr emotionalen oder Fantasie anregenden Filmen der Fall. Die Besucher kamen dann angeheitert und entspannt aus den Kinosälen, sodass sie oft noch Stunden danach kein Verlangen nach Isodol verspürten. Die Wellen behindern das Kurzzeitgedächtnis und erzeugen eine sehr zufriedenstellende Euphorie bei den Kinogästen. Sie können dann nicht länger als einige Sekunden über das Erlebte nachdenken und die Erinnerungen an den Film verdunkelten sich in ihrem Langzeitgedächtnis zu Erinnerungen wie aus sehr früher Kindheit. Ein Actionfilm war ein Actionfilm, eine Komödie eine Komödie. Die Kinobesucher wollten gute Unterhaltung und Ablenkung, keine Details, über die sie noch lange nachgrübeln oder sogar streiten mussten. Die Beruhigungswellen-Emitter zerstreuten regelrecht die Gedanken und Erinnerungen.
Science-Fiction wurde in den Emo-Kinos nicht sehr häufig gespielt. Doch Arnold erinnerte sich immer an seine gespannte Neugier am Anfang dieser Filme. Doch je länger die Wellen einwirkten, desto mehr nahm diese Neugier ab. Nur selten konnte er sich nachher an die Handlung in der Mitte des Films erinnern. Meistens blieb ihm die erste Szene im Gedächtnis und vielleicht noch das Happy-End, weil die Wellen am Ende etwas reduziert wurden. So bekam man zwar den Eindruck den Film bei vollem Bewusstsein erlebt zu haben, sich mit anderen über Filme zu unterhalten war dadurch aber nur sehr oberflächlich möglich. Oft blieb es bei einem „Hast du den Film auch gesehen?“ - „Ja, schöner Film.“ Ganz selten mehr.
Das alles stellte Arnold nicht zufrieden. Er wollte die Filme, die er so mochte, viel detaillierter im Gedächtnis behalten. So versuchte er bei weiteren Science-Fiction-Filmen, den Punkt dieses vergesslich-zufriedenen Stimmungsumschwunges auf später zu verschieben. Meistens erfolglos. Doch manchmal, wenn er einen Film an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen anschaute, blieb eine vage Vorstellung der gesamten Handlung in seinem Gedächtnis haften. Und er wurde sich immer sicherer, dass er über Nacht die bruchstückhaften Erinnerungen ein wenig sortieren und am Morgen etwas präziser wieder aus seinem Gedächtnis hervorholen konnte. Doch es war mehr wie eine Idee eines Film, die sich fast so anfühlte, als sei sie ihm gerade erst selbst gekommen. Je häufiger er einen Film ansah, desto besser erinnerte er sich. Nach der zwanzigsten oder dreißigsten Vorführung konnte Arnold einen Film mit etwa einem Dutzend Sätzen nacherzählen. Immerhin ein Dutzend Sätze, aber auch nicht mehr. Die Erinnerungen fühlten sich an, als sei sein Gehirn krank. Details verblassten immer wieder unaufhaltsam aus seiner Erinnerung. Zäher Gedankenbrei verhinderte eine klare Erinnerung, egal, wie intensiv