Überwachungsstaat und Denunziantentum
Die gefühlte Freiheit der Einzelnen wird in den so genannten demokratischen Staaten immer größer. Allein die Möglichkeit bei nahezu allen Handlungen mehr Auswahloptionen zu erhalten wird von vielen als Freiheit und Fortschritt empfunden. Die Diskussion, ob das Ein oder das Andere nur gefühlte Freiheit oder tatsächliche Freiheit bedeutet, scheitert regelmäßig an der philosophischen Definition des Begriffes Freiheit. Allein die Möglichkeit vieler Millionen Menschen in fast jede Region der Erde reisen zu können, bedeutet für diesen Teil der Erdbevölkerung durchaus mehr erlebte Freiheit sprechen. Doch was uns in der Werbung als Freiheit verkauft wird, birgt die Gefahr, dass die Menschen heute wieder viel von ihrer Freiheit einbüßen können. Heute ist es leichter als je zuvor die ganze Erde zu bereisen, viele Vorgänge auf der Welt zu beobachten oder Geldtransfers und die Aufenthaltsorte anderer Menschen zu überwachen. Ermöglicht wird dies besonders durch die gefühlte Freiheit der Nutzer moderner Medien, wie dem Internet. Spielerisch motiviert durch bestimmte Anreize, geben Smartphone-Benutzer ihren Standort oder ihre täglichen Wege preis. Wer das nicht freiwillig tut, kann trotzdem mit einem normalen Handy einer Standort-Ortung unterzogen werden und zwar nicht nur durch die Polizei.
Auch das Denunziantentum erlebt eine erneute Renaissance, die vergleichbar ist mit der Zeit der Inquisition. Besonders deutlich wird das in Staaten die zum Anfang des dritten Jahrtausends von Demokratien zu Diktaturen oder Autokratien abrutschten, Russland, Ungarn, Weißrussland, die USA unter Trump oder die Türkei 5. Doch in den so genannten sozialen Netzwerken ist es leicht geworden, sogar in freien Staaten, andere zu denunzieren ohne bestraft zu werden. Das können auch Staaten für eigene Interessen ausnutzen. Die Bewohner der „Schönen Neuen Welt“ sind auf eine gewisse Weise zwar kultiviert und domestiziert, die sensationslüsterne Bestie des finstersten Mittelalters lauert aber immer noch in ihnen. Das zeigt sich, zum Beispiel im Tratsch über die Gerüchte und den Rufmord um die Alkoholschädigung des Embryos von Sigmund Marx in Huxleys Roman. Und auch achtzig Jahre danach haben sich die Menschen in dieser Hinsicht nicht geändert. Im aktuellen Roman finden es viele Bürger unterhaltsam und zufriedenstellend, wenn sie Videos anschauen in denen andere Personen scheitern.
Was Huxley nicht ahnen konnte – wir hängen im Netz
Aus Huxleys Sicht betrachtet wäre vielleicht eine der schrecklichsten Erfindungen das Internet. Schwer vorhersehbar waren damals die Entwicklungen in kabelloser Elektronik und in der Mikrotechnologie. Der kostengünstige Zugang zu kabellosen Telefonen war Ende des 20. Jahrhunderts nur der erste kleine Schritt, der zweite größere Schritt sind die vielfältigen Spielarten mobiler Kommunikation. Wenn in der „Schönen neuen Welt“ Feline bei ihrem Unfall im Reservat per Handy hätte Hilfe holen können, wäre das in jedem Roman viel zu einfach für eine dramaturgisch wertvolle Handlung gewesen. Viel interessanter erscheint die heutige Möglichkeit sich an fast jedem Ort auf der Erdoberfläche per GPS orten zu lassen. Dies machen heutige Konsumenten oft recht pragmatisch zur bloßen Orientierung oder mehr oder weniger spielerisch mit GPS-basierten „Apps“, die den Standort oder eigene Sportaktivitäten in sozialen Netzwerken oder auf Internetplattformen veröffentlichen. Absichtlich geschieht die Ortung per GPS durch den Einbau der entsprechenden Technologie in Kraftfahrzeuge oder andere Gegenstände, die gestohlen werden können. Natürlich ist dies auch mit Menschen möglich. Aktuell lassen sich schon Freiwillige einen Chip implantieren, der ihnen im Alltag bei persönlicher Identifikation, beim bargeldlosen Bezahlen oder dem Öffnen der eigenen Wohnungstür, behilflich sein soll. Das öffnet Möglichkeiten den Chipträger von außen zu überwachen und mitunter zu kontrollieren. Weltweite Ortung und die globale Kommunikation sind sicher die größten Einflüsse, den die bisherige Raumfahrt auf unser tägliches Leben hat. Mehr als jede Teflonpfanne.
China hat 2018 das Überwachungsinstrument des „Sozialkredits“ oder „Social Score“ eingeführt. Zunächst nur als Pilotprojekt, doch die landesweite Einführung wird inzwischen schrittweise voran getrieben. Ein Punktesystem das erwünschtes und unerwünschtes Verhalten bewertet, soll aus den Chinesen bessere Menschen machen. So können sich schon mehrere kleinere Lappalien, wie Hundekot auf dem Gehweg, zu einem ewigen Hindernis aufbauen, für bestimmte berufliche Karrieren oder bei der die Erlaubnis Kinder zu bekommen. Auch Konsum wird mit diesem System bewertet. In „Achtzig Jahre danach“ hat die Gesellschaft, den Bürgerindex und die Konsumpunkte eingeführt, die genau diese Idee widerspiegeln.
In der schönen neuen Welt hat Huxley seine Figuren in bedrückender Weise messbar gemacht und durch einen staatlichen Zahlenkult terrorisiert. Die Effizienz und die Konsumlaune von Menschen messbar zumachen ist aber auch die Dokrin des Taylorismus, der seit der 1930er-Jahren einen erschreckenden Aufschwung erlebt hat. Ich halte es für möglich, dass schon Huxley dies bereits mit seinem Roman kritisieren wollte. In „Achtzig Jahre danach...“ lebt dieser Zahlenkult auch in der Gesellschaft das Romans noch stärker fort.
Wenn sich Huxleys schöne neue Welt in wenigen Jahren erheblich verändert hätte, wäre sie sich selbst nicht treu geblieben. Beständigkeit war in seiner schönen neuen Welt Prämisse, schnelle und offensichtliche Veränderung war dort unerwünscht. Huxley hat 27 Jahre nach seinem Roman mit „Brave New World Revisited“ eine ernüchternde Zwischenbilanz unserer Welt gezogen.
Hätte die Welt in Huxleys Roman aber dreimal soviel Zeit gehabt sich zu verändern, wären die Veränderungen weniger wahrnehmbar gewesen. Kenner von Huxleys Meisterwerk werden diese Unterscheide der alten schönen neuen Welt zur Gesellschaft im aktuellen Roman „Achtzig Jahre danach...“ sofort erkennen. Die Veränderungen in „Achtzig Jahre danach...“ zu Huxleys „Schöner Neuen Welt“ sind zum Teil erheblich, teilweise aber auch nur unwesentlich. Der neue Roman soll nicht als zweiter Teil von Huxleys Romans verstanden werden. Eine Fortsetzung hätte Huxley persönlich in den drei Jahrzehnten nach dem Roman schreiben müssen, um authentisch nah am Original zu bleiben. „Achtzig Jahre danach...“ ist als Alternative von vielen denkbaren Alternativen zu verstehen, eine gesellschaftliche Fantasie, die mit Hilfe der heute greifbaren Möglichkeiten geschaffen wurde, die aber in den 1930er Jahren noch nicht einmal denkbar gewesen war.
Wer erleben möchte, wie sich die hier erwähnten Entwicklungen auf Huxleys „Schöne neue Welt“ ausgewirkt haben könnten, dem empfehle ich meinen folgenden Roman „Achtzig Jahre danach in der schönen neuen Welt" gründlich zu lesen. Der Leser wird darin willkommen geheißen im Jahr 760 Jahre nach den Stock Yards von Chicago, wo die Schlachtung am Fließband erfunden wurde!
Ron Palmer
Diese Einleitung wurde auch als separate Abhandlung veröffentlicht.
Kapitel 1 – Ich bin stolz ein Zweier zu sein
Die schwarze Flaschenreihe klimperte auf der Förderanlage. Putina erinnerte das entfernt an die Geräusche, die sie vor sechs Monaten in den oberen Stockwerken der Schule gehört hatte. Statt in den Pausengarten zu gehen, stieg sie damals die Treppe hinauf bis in die Etage, wo nur die Einser-Kinder der Grundschule unterrichtet wurden. Eine Tür stand offen. Das interessante Klimpern zog Putina unwiderstehlich an, sie ging ihm entgegen und bliebt im Türrahmen stehen. Sie sah einen etwa gleich alten Jungen vor einem hölzernen Kasten sitzen. Er drückte am Kasten auf eine Reihe schwarzer und weißer Tasten und entlockte ihm so die faszinierend klingenden Töne. Am Türrahmen entzifferte sie K-L-A-V-I-E-R-Z-I-M-M-E-R und wollte eintreten. Bohrend durchfuhr sie plötzlich ein automatischer Elektroschock aus ihrem Erziehungshalsband. Das hatte sie noch nie gefühlt, wusste aber sofort, dass dieser Bereich für Zweierinnen wie sie tabu war. Weinend rannte sie in den Pausengarten hinunter. Sie wischte ihre Tränen weg. Niemand hatte ihren Fehltritt bemerkt und sie ging danach nie wieder in die oberen Stockwerke der Schule.
Noch mehr schwarze Flaschen zogen auf dem weißen Förderband an Putina vorbei, während der uniformierte Mann erklärte, dass darin kleine Kinder heranwuchsen. Sie kippte ihren Kopf auf die rechte Schulter. Jetzt sah sie plötzlich vor sich eine endlose Klaviertastatur