80 Jahre danach in der schönen neuen Welt. Ron Palmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Palmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753188683
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werden viele energisch leugnen, dass dies auch in unseren modernen und aufgeklärten Gesellschaften der Fall ist. Zu sehr schrecken uns die historischen Beispiele ab, in denen Völker, von blindem Gehorsam getrieben, aufeinander losgingen. Unser Bedürfnis nach Freiheit scheint erheblich durch diese Erfahrungen beeinflusst zu sein. Selten wurden aber unmittelbar nach einem gescheiterten totalitären Regime die Menschen auf die gleiche Weise gefügig gemacht. Subtilere Methoden wurden danach notwendig, denn die potentiellen Opfer waren bereits vorgewarnt. Die bewährten alten Methoden wurden trotzdem in späteren Epochen übernommen, nur eben schwerer zu entdecken oder einfach nur einige Generationen später. Geschichte wiederholt sich leider immer wieder auf erschreckende Weise.

      Die Methoden, mit denen man andere gefügig macht, werden in heutigen Diktaturen ebenso wie in den freien Gesellschaften angewendet: getarnt mit Technologie oder auch versteckt hinter Konsumanreizen. Dazu werden oft Feindbilder, Lebensziele oder Weltanschauungen aufgebaut. Für viele dieser zweifelhaften moralischen Werte werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene dann während ihres gesamten Lebens mit einer gesellschaftlichen Erziehung geprägt. Doch allen Menschen, die sich so fühlen, als lebten sie in einer freien Gesellschaft, sei gesagt: Auch das Konsumverhalten wird anerzogen.

      Zweiundsechzigtausendvierhundert Wiederholungen, schreibt Huxleys in seinem Roman, ergeben eine Wahrheit. Damit spielt er an auf Propaganda, Werbung und manipulative Medien, die ebenso auf viele Wiederholungen setzen. Was sich einprägt, wird zur Gewissheit und damit für viele zum Wissen. Quasi: „Ich erinnere mich, also weiß ich.“ Glaube und Lügen werden so in den Köpfen zu gefühltem Wissen. Früher wie auch heute.

      Diese Fixierung kann in ganz verschiedenen Bereichen stattfinden: Sei es die Bindung an bestimmte Personen, in Form eines Führerkults oder an bestimmte Parteien und Ideologien bis hin zum ganz bestimmtem Kaufverhalten oder einer festgelegten Sichtweise für soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge. Manches davon kann durchaus moralisch und ethisch wünschenswert sein. Manchmal werden aber auch Moral und Ethik missbraucht, um weiterführende Ziele zu maskieren. So werden wir zwar heute nicht pränatal ideologisch geprägt, aber doch sehr eindeutig postnatal. Unterbewusste Einflüsse werden dabei immer mehr dazu genutzt, dieses Ziel zu erreichen. Jeder kennt Beispiele wie PayBack-Punkte oder Flugmeilen, die mehr Konsum belohnen. So hat das „Sparen“ solcher Boni heute kaum noch etwas mit Verzicht zu tun, sondern mit einem Mehr, das ich als Belohnung für noch mehr Konsum erhalte. Beim letzten Thema der Abhandlung „Was Huxley nicht ahnen konnte – wir hängen im Netz“ wird die Brücke zum chinesischen Bürgerindex geschlagen, der ja auch in „Achtzig Jahre danach...“ angewendet wird.

       Kasten, Schubladendenken und die scheinbare Freiheit der Wahl

      Vielfalt ist, als kreative Spielart der Natur, in der „Schönen neuen Welt“ äußerst unerwünscht. Das Ergebnis einer jeden Handlung, und sei es die Fortpflanzung, soll jederzeit in seinen Ergebnissen vorhersehbar sein. Für dieses Ziel scheint menschliche Konfektionsware die praktische Antwort zu sein.

      Auch heute werden wir in Konfektionsgrößen gedrängt und das nicht nur in der Mode, wo besonders dicke, große oder kleine Menschen ernste Probleme bekommen. Wir sollen auch politisch in Schubladen denken: Unsere Meinungsvielfalt kann unmöglich von der kleinen Anzahl der politischen Parteien vertreten werden, zwischen denen wir uns entscheiden müssen.

      Spätestens wenn nach den Wahlen Koalitionen zwischen gegensätzlichen Parteien eingegangen werden, fühlen sich die Wähler betrogen. Es stellt sich dann heraus, dass man trotz der oft schon geringen Auswahl von nur zwei oder drei Wahloptionen am Ende doch nur eine Wahl hatte. Große Koalitionen stellen sich dann als Ein-Partei-System heraus, die nicht mehr die Meinungsvielfalt der Bevölkerung vertreten. Die Wahl an sich wird damit ad absurdum geführt. Aber auch die Tatsache, nur etwa alle vier Jahre bei einer Wahl politisch mitbestimmen zu dürfen, kann nicht als große demokratische Einflussnahme gelten. Sich so selten zu entscheiden geht an der Praxis der Gesellschaft vorbei. Jede angebliche oder tatsächlich Demokratie zelebriert sich bei Wahlen in sehr großen Abständen von mehreren Jahren. Nur in diesen mehrjährigen Intervallen dürfen die Bürger mitbestimmen! Doch diese groben Zeitraster ermöglichen nur einen Eindruck von Mitbestimmung. Kurzfristige Volksabstimmungen sind seltene Ausnahmen und womöglich auch nur eine Strategie zur Ruhigstellung der Bevölkerung, wenn sie dabei nur über unbedeutende Dinge entscheidet. Wirkliche Demokratie, also tatsächlich die direkte Regierung eines Staates durch seine Bevölkerung, ist bis heute ein unerreichtes Ideal geblieben. Viele Wähler resignieren angesichts ihres geringen politischen Einflusses und verzichten auf ihr Wahlrecht, werden demokratieträge oder sogar demokratiefeindlich.

      Aber auch Konsumenten wählen wir aus einem großen Angebot von Waren. Die scheinbar individuelle Auswahl wird dabei durch bestimmte Produktkategorien oder auf andere Weise vereinfacht. Unser Konsumverhalten wird dann nicht nur über das Was?, sondern auch über das Wo?, Wie oft? und Wie teuer? aufgezeichnet. Der Verbraucher tappt heute dabei manchmal unfreiwillig, aber oft sogar freiwillig in die Überwachungsfalle: mit PayBack-Cards, beim Kreditkarteneinkauf oder Käufen über Smartphones und mit ähnlichen Kontrollinstrumenten.

      Im Internet geschieht dies fast unbemerkt und ganz automatisch beim jedem Online-Shopping: Unpersönliche Algorithmen erstellen über uns Benutzerprofile und teilen uns dabei in Konsumenten-Schubladen ein. Diese sagen dann über uns aus, ob wir es wert sind bestimmte Waren oder Dienstleistungen zu erhalten oder wie kreditwürdig wir sind. Es wurden schon Kontrollinstrumente entlarvt, die eindeutig rassistische oder sexistische Kriterien bei der Beurteilung anlegten.

      Aber auch in sozialen Bereichen, die noch nicht automatisiert sind, wird durchaus mechanisiertes Denken und unkreatives Schubladendenken angewendet. Der Mensch denkt gern einfach, denn das Gehirn verbraucht viel Energie. Ökonomisch zu denken brachte daher in der Evolution gewisse Vorteile, wenn der größte Teil der Bevölkerung angepasst oder in sehr einfachen Bahnen dachte.

      Auch der Arbeitsmarkt kennt nur ganz bestimmte, oft viel zu wenige Berufsbilder. Bewerbungen werden dementsprechend in Kategorien eingeteilt, bewertet und ausgewählt. Oft geht es nur noch darum, ob bestimmte Fähigkeiten in Form von standardisierten Schlüsselwörtern genannt werden. Wo das noch nicht automatisiert geschieht, beurteilen Personal-Experten andere nach bestimmten Schlagwörtern, die in ihrem Lebenslauf, in ihren Zeugnissen oder im Bewerbungsgespräch auftauchen. Schublade auf, Mensch hinein, Schublade zu!

      Auch Ärzte diagnostizieren unsere Krankheiten nach bestimmten Kriterien und kategorisieren sie nach Checklisten, ähnlich einer Fahrzeug-Inspektion. So funktioniert wissenschaftliches Arbeiten, aber ebenso ökonomische Arbeit, wie sie der Taylorismus seit über hundert Jahren lehrt. Doch so bleiben manche Erkrankungen oder deren Ursachen unentdeckt. Menschliche Faktoren entziehen sich oft einer rein ökonomischen Beurteilung.

      Der Wohlstand der Reichen wurde in den letzten Jahrzehnten mehr als je zuvor auf den Schultern der Ärmeren aufgebaut. Der Unterschied zwischen Arm und Reich war weder in der Steinzeit noch in der Antike oder im Mittelalter so groß wie heute weltweit. Abgesehen davon, dass es immer noch Sklaven gibt, arbeiten außerdem heute mehr Lohnsklaven als je zuvor. Also Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt, als für das eigene Einkommen und das ihrer Familie auf praktisch alle Rechte zu verzichten. Es ist eine Kaste, die dem Sklaventum sehr nahe kommt, oft noch schlechter gestellt als die Kaste der „Deltas“ in Huxleys Roman oder der „Vierer“ in „Achtzig Jahre danach...“. Eine Haushaltshilfe in Singapur, einem der reichsten Staaten der Welt, verdient im Monat etwa 400 Singapur-Dollar, was derzeit etwa 250 Euro entspricht. Dafür stehen diese Hausbediensteten von früh bis spät dem Arbeitgeber zur Verfügung und wohnen in fensterlosen Zehn-Quadratmeter-Zimmern. Der Vergleich zur Sklaverei ist daher naheliegend.

      Kasten und Schubladen erleichtern den Umgang mit der schematisierten Ware Mensch. In Schubladen zu denken erleichtert es uns aber andererseits, wesentlich schneller oder überhaupt den nächsten Schritt zu tun. Auch wenn es nicht immer der richtige ist. Somit gehören Kasten und Schubladen mehr denn je zu unserem heutigen Alltag. Standardisierte Menschen ermöglichen noch genauere Vorhersagen und damit eine präzisere Kontrolle der Bevölkerung.