Kacey saß von der Kaiserin aus an der rechten Wand ganz oben zwischen seinen hochrangigen Magierkollegen, als Vertreter und Sprecher der Akademie von Solitude. Der größten und berühmtesten Magieruniversität des gesamten Kaiserreichs. Vor genau drei Tagen hatte man ihm den Titel Oberster Magister verliehen, womit ihm die Schule quasi gehörte, nachdem sein Vorgänger nun leider seiner langen, leidensvollen Krankheit erlegen war.
Und so unschicklich sein nächster Gedanke auch war, der alte Mann hätte nicht zu einem günstigeren Zeitpunkt abtreten können, denn er war zuvor schon nicht in der Lage gewesen, die Belange der Akademie und der Schüler angemessen zu verwalten, vom Bett aus und halb im Delirium wie er nun mal war, war es ohnehin Kacey gewesen, der alles am Laufen gehalten hatte, doch leider waren ihm oft die Hände gebunden gewesen, da er für alles die Zustimmung und die Unterschrift des im Sterben liegenden Greises – die Götter mögen ihm gnädig sein – benötigt hatte.
Auch wenn er es niemals offen sagen würde, es gab leider häufig zu viele ältere Personen – vor allem in Führungspositionen –, die an ihren alten Denkweisen festhielten. So auch in Bezug auf die Sicherheit der Schule, nachdem sie zweimal angegriffen worden war. Die alten Magister waren sich einig, dass die Wachen und der Schutz der Stadt vollkommen genügten, immerhin wurden bisher alle Angriffe abgewehrt. Dass die Angreifer ihre Verteidigung irgendwann durchschauen würden, wollten sie nicht begreifen, sie hielten sich für klüger – und handelten doch unsäglich dumm. Sie hielten an ihren Traditionen fest, sich auf die Waffenkraft allein zu verlassen, obwohl vor einer Woche eine junge Schülerin umgekommen war und immer mehr Magier die Akademie verließen. Der Tod eines Mädchens war nicht genug, um zu erlauben, dass sie Magier auf den Kampf vorbereiteten, nicht einmal einen Schutzschild aus gebündelter Kraft wollten sie zulassen, dabei ginge es nur um die Verteidigung der Anlage und ihrer Bewohner. Kacey hatte seine treuen Schüler einfach zu sich genommen und gemeinsam einen Schutzschild beschworen – und viel Zorn und Unglauben geerntet. Doch zum Glück wählten nicht nur die älteren Lehrer den neuen Magister, sondern alle, auch die Schüler, und so übernahm er das ehrenwerte Amt.
Kurz um, er trug nun die gesamte Verantwortung für alle Magier des Kaiserreiches. Er sollte nervös sein, er sollte Angst haben, doch das hatte er nicht. Noch nie im Leben hatte er sich so sehr einer Verantwortung gewachsen gefühlt. Dort, wo er jetzt saß, dort gehörte er hin, denn er wusste genau, wofür er sich einsetzen wollte, und er würde nicht weniger als sein Leben dafür hergeben, um seine Schützlinge vor Schaden zu bewahren.
Deshalb hatte er die ganze Nacht an seinem Tisch verbracht, um sich auf die Versammlung vorzubereiten, hatte seine Worte aufgeschrieben und mehrfach umgeschrieben, und war am Ende doch nicht zufrieden. Er hatte Briefe verfasst, um die geflohenen Schüler zur Akademie zurück zu bitten, da er es in der derzeitigen Situation für zu gefährlich hielt, wenn sie ungeschützt in ihren Elternhäusern verweilten. Er fürchtete, jemand könnte ihnen auflauern. Zusammen wären sie stärker.
Trotz, dass die Versammlungshalle groß genug war, um einen stehenden Drachen – einen von den ganz großen – unterzubringen und es weder Fenster noch Vorhänge gab, schien die Luft so dick im Raum zu stehen, dass er sie in Scheiben schneiden könnte. Hunderte Personen waren zusammengekommen, jeder stieß heißen Atem in die schwüle Luft Elkanasais, und selbst der kühle Stein, aus dem das Gebäude erbaut war, und das Fehlen von Fackeln machten es nicht erträglicher. Selbst er, der kälteempfindliche Kacey, hatte einen schimmernden Schweißfilm auf der makellosen, kleinen Stirn. Seine goldenen Löckchen klebten ihm im Nacken und kräuselten sich.
Zuerst hatte die Kaiserin sich die Belange der Stadträte und Verwalter angehört, allerlei über Wasserversorgung, Überfischung des Flusses, Streitfragen über Verbote, Tierschutz und Sklavengesetze, Nachbarschaftsstreit, Töchter und Söhne, die ihre Väter wegen versuchter Zwangsheirat anklagten. Die Kaiserin vertrat ihren Gemahl – Kaceys leiblichen Vater – mit beneidenswerter Geduld. Nicht ein einziges Mal hatte Kacey sie schnaufen gehört oder gesehen, dass sie die Augen verdrehen musste, sie nahm alle Belange ernst und ließ nicht zu, dass sich auch nur der kleinste Bürger ungehört fühlte, selbst dann nicht, als ein Tuchmacher sich über die Abwasserentsorgung beschwerte, da er kostengünstiger an Urin zu gelangen versuchte, um seine Stoffe einzufärben.
Kacey war an diesem Tag froh, dass er eine farblose, traditionelle Toga trug und keine seiner eingefärbten, aus Seide und Damast bestehenden, aufwändigen Magierroben. Natürlich wusste er, wie gewisse Stoffe zu gewissen Farben kamen, doch so genau wollte er nichts über den Prozess hören.
Kaiserin Ari wurde hin und wieder von einem spärlich bekleideten Diener mit einem weichen Tuch abgetupft, Zofen wedelten ihr etwas Luft zu und zupften ihre aufwendig geflochtene Frisur zurecht, während sie sich alle Belange Stunde um Stunde anhörte und Entscheidungen fiel. Sie war eine zierliche, hochgewachsene Frau, mit langen, braunen Haaren, durch die sich silberne Strähnen zogen, wie vom Mondschein angestrahlte Flüsse durch einen düsteren Wald. Sie war wunderschön, besaß kaum Falten, doch darüber hinaus war sie auch klug und stark, ihr Körper unter dem silbernen Seidenkleid war gestählt, denn einst war sie eine Kriegerin gewesen. Genau wie ihr Gemahl Eagle, und genau wie Kacey, stammte sie aus Nohva und besaß runde Ohren. Die Kaiserkrone von Elkanasai hatte Eagle durch seinen Vater erhalten, König Wexmell Airynn von Nohva, der nach seiner Wahl zum Kaiser die Bürde an seinen Sohn übertragen hatte, um in Nohva an der Seite seines mittlerweile gefallenen Gefährten Desiderius zu regieren.
Es war und würde immer das größte aller politischer Wunder in ganz Elkanasai darstellen, dass Wexmell Airynn, Erbe eines anderen Königreiches, zum Kaiser der Spitzohren gewählt worden war, nur auf Grund der Tatsache, dass er war, wie er war. Gerecht, Aufopfernd, dem Frieden zugeneigt, und sich nicht vor Dämonen fürchtete. Aber zuvorderst natürlich, da durch ihn ein Bündnis mit dem gefährlichen Carapuhr und seinem rachsüchtigen König ausgehandelt werden konnte.
Manchmal war die stärkste Waffe, die man im Kampf um eine Krone besaß, die Bündnisse, die man fähig war, einzugehen.
Kacey wusste über die Geschichte der großen Reichen fast alles, über den Krieg in Nohva, den Kampf gegen die Dämonen, den blutigen, jahrzehntelangen Krieg zwischen Elkanasai und Carapuhr. Er hatte die Geschichte studiert.
Nach seiner Kindheit in Zadest, wo seine Mutter mit ihm während der Dämoneninvasion hin geflüchtet war und wo er als magischer Sklave in den Frauenstämmen gelebt hatte, abgeschottet vom Rest der Welt, hatte er alles über die anderen Reiche erfahren wollen, hatte wissen wollen, was alles geschehen war, wissen wollen, wovon er so lange keinen blassen Schimmer gehabt hatte.
Ihm war es wichtig gewesen, Versäumtes aufzuholen, die Reiche zu kennen, mit denen er nun zu tun hatte. Immerhin war er der Bastard des Kaisers und er war ein Airynn. Er hatte wissen wollen, was es bedeutet, diesem Haus anzugehören, hatte seine Vorväter verstehen wollen, die Geschichte seines Geschlechts – und allen, die damit verbunden waren.
Man hatte ihm als Kind seine Magie abgezapft, um damit ein Götterportal zu speisen, er war wie eine Kuh gemolken worden. Noch heute zierte eine kreisrunde Narbe seine Stirn, die ihn als magischen Sklaven auszeichnete. Nur ein Objekt. Zwar hatten sie ihn nie körperlich misshandelt, doch nachdem seine Mutter gestorben war, war er in seiner Zelle vereinsamt, weshalb er es noch heute kaum ertrug, allein in einem stillen Raum zu sitzen, und sich eigentlich immerzu danach sehnte, von jemanden berührt zu werden. Und sei es nur eine Hand, die auf dem Markt flüchtig und ungewollt die seine streifte. Er brauchte das, weil er nur dann zu atmen vermochte. Doch das verbarg er gut hinter einem immerzu frohen Lächeln, und indem er sich in die Arbeit stürzte.
Die offensichtliche Narbe auf seiner Stirn verdeckte er durch einen goldenen Reif. Gedankenverloren berührte er das Schmuckstück, während einer der Stadtverwalter über das Eintreffen einiger Händler sprach, und wie er deren Stände auf dem großen Markt der Stadt unterzubringen gedachte, welche anderen Händler er zu verjagen bevorzugte, da sie ihre Pacht seit zwei Monden nicht mehr gezahlt hatten, und allerlei.
Warum dachte Kacey ausgerechnet jetzt über die Vergangenheit nach? Etwas hatte ihn darauf gebracht, er wusste nur