Odin auf seinem Pferd blieb noch ein Weilchen stehen. „Los, Sleipnir. Zeig deinen Geschwistern wie man eilt!“ Der pechschwarze Hengst wieherte, vier Hufen schlugen vom Boden, vier weitere schlugen auf. Geschwind galoppierten sie dem Wolf hinterher und holten sie nach wenigen Wimpernschlägen ein. Als sie nebeneinander herliefen, zügelte sich Sleipnirs Schritt, jeweils zwei Hufen schlugen zur selben Zeit auf den Boden auf. Odin bemerkte, dass sie sich dem Stamm Yggdrasils näherten. „Wohin gehen wir?“ fragte er Hel. Ihr schwarzverbrannter Zeigefinger zeigte auf den Boden. „Niflheim?“ Der verwehte Schleier nickte. Am Rande Helheims sprangen sie durch den verbergenden Wasserfall Gjöll ab und landeten auf dem Ast, der diese Welt stützte. Durchnässt klammerte Hel sich fest an den dunklen Pelz ihres Bruders, als dieser vom Ast sprang und den Stamm hinunterrannte. Auch Odin hielt sich fest am Hals Sleipnirs, als dieser seinem Halbbruder in den Abgrund hinunterfolgte, jedoch nicht am Stamm hinunter, sondern hinab durch die Luft. Der Wind peitschte im Gesicht. Odin schloss sein Auge und vertraute seinem Pferd blind, ihn unbeschadet hinunterzubringen. Je länger sie stürzten, umso kälter wurde die Luft, die ihnen entgegenpeitschte. Wie Messer schnitt der Wind durch Haut und Knochen.
Sleipnir wieherte und stellte sich auf vier Hufen. Sie waren angekommen. Odin ließ mit Seidr die Spitze Gungnirs so hell aufleuchten, dass er die Kinder erkennen konnte. „Hel, warum warst du hier?“ fragte der Ase, während er vom Pferd abstieg. Fenrir legte sich auf seine Pfoten und Hel kletterte hinab. Sie streichelte ihn hinterm Ohr. „Hel!“
Das Mädchen drehte sich zum Asen, ihr Kopf geneigt zum Boden. Sie stellte sich schützend vor den Wolf, bevor sie sagte: „Bitte sei nicht böse auf Fenri‘. Ich wollte etwas neues Essen und er brachte mich zur Welt der Tiere, nach Midgard.“
„Ihr habt nichts in Midgard verloren!“ sprach Odin mit einem befehlenden Ton.
„Ich w–weiß. Es tut mir L–Leid“, schluchzte sie
Odin ging zum Mädchen und legte seine Hand auf ihr Haupt, fühlte ihre Knochen und verbrannte Haut darunter. „Schon gut. Ich verstehe, dass dieselbe Kost irgendwann fad schmeckt. Bei meinem Bart, ich wollte ich müsste nicht Iduns Früchte essen. Warum kamt ihr denn nach Niflheim?“
Das Mädchen blickte hoch, doch wegen dem Schleier war nicht zu erkennen, ob sie getröstet war oder weiter Tränen ihre Wangen hinunterflossen. „Nach Midgard war ich neugierig, wie die anderen Welten aussahen. Es ist alleine meine Schuld. Fenri‘ trug mich nur. Erst nach Jotunheim, wo Vater geboren wurde…und dann hierhin.“
„Solange Fenrir dich beschützt, ist alles gut“, tröstete er sie erneut und der Wolf heulte auf. „Du wolltest mir was zeigen“, sagte er und reichte ihr seine Hand. Sie nickte, nahm ihn bei der Hand und sie liefen ein Stück entlang der Wurzeln Yggdrasils, die in Niflheim mündeten.
Die Luft war eisig. Mit jedem Ausatmen verließ ein Teil ihrer Wärme, ihre Lebenskraft, in weißem Rauch. Er blickte auf das Mädchen und auf ihre Hand, die seine umschloss, und die andere, die entlang der Wurzel glitt. Wärme strahlte von Hel wie ein Feuer. „Hier“, sie nahm Odins Hand und legte es auf eine Stelle der Wurzel.
Er verspürte wie Energie ihn überkam, ähnlich wie an dem Tag, als er zu den Nornen lief. Das Gefühl verließ ihn, als er seine Hand von der Wurzel nahm.
„Die Wurzeln?“ Er legte beide Hände auf.
„Es fühlt sich so an wie Seidr“, sagte das Mädchen und legte ebenfalls ihre Hände—schwarz und weiß—auf die Wurzel. „Als wir hier zum ersten Mal waren, habe ich an unsere Schwester gedacht; ich wollte, dass Fenri‘ sie kennenlernt. Ich habe auch meine Hände hier aufgelegt. Dann…dann brannten meine Hände und unter ihnen entstand eine Schlange. Aber es war nicht Jörmungand. Es hatte scheußliche grüne Schuppen. Es hatte Angst vor uns. Fenri‘ wollte es fressen, aber ich hielt ihn davon ab (Der Wolf bellte auf). Die Schlange kroch davon, dann gingen wir wieder nach Hause.“ Hel löste sich von der Wurzel und streichelte Fenrir. Odin konzentrierte sich auf das Bild Jörmungands; er wollte wie Hel ein Lebewesen kreieren. Das Bild der Schlange wurde klarer im Kopf, seine Hände brannten unerträglich heiß und er zuckte von der Wurzel zurück. „Ich zeig es dir mal.“ Hel legte ihre Hände auf die Wurzel, sie glühte hell auf und unter ihr kroch eine Schlange hervor. Sie kroch nicht weit, da biss Fenrir sie diesmal tot.
Odin versuchte es erneut. Er legte seine Hände auf und konzentrierte sich auf das Bild der Schlange. Abermals brannten seine Hände schmerzhaft, doch sie glühten nicht wie bei Hel auf. Er schlug auf die Wurzel und schrie verärgert.
„O–O–Onkel Odin…können wir wieder nach Hause gehen?“ fragte sie schüchtern.
Er drehte sich zum kleinen Mädchen, ihre Knie zitterten—vor Angst und Kälte. „Natürlich. Hel, komm zu mir“, er drückte sie zu sich. „Fenrir, Sleipnir, ihr lauft zurück, ja?“ Das Pferd wieherte und der Wolf bellte. Sie waren wohl froh, ein Rennen bestreiten zu können. Odin warf seinen Mantel um Hel und sich und im nächsten Augenblick waren sie wieder in Helheim bei der Hütte, die er gemeinsam mit Loki für sie errichtet hatte. „Hel, ich muss zurück nach Asgard. Ich komme morgen wieder. Magst du mir dann mehr von deinem Zauber zeigen?“ Das Mädchen nickte euphorisch. Odin warf sich den Mantel wieder um und fand sich in seiner Schlafkammer wieder.
„Wo warst du?“ fragte seine Frau Freya eifersüchtig.
„In Niflheim.“ Odin setzte sich auf das Bett und löste die Schnallen seiner Stiefel. Freya kniete sich vor ihn und half ihn aus den Stiefeln. „Die Wurzeln Yggdrasils sind gefüllt mit Seidr.“ Freya stand auf und schmiss die Stiefel beiseite. Sie lehnte sich an das Fenster und lachte. „Was ist so komisch?“ fragte er, doch sie lachte weiter ohne ihm Antwort zu geben. Er packte sie und drehte sie, sodass sie ihm in sein Gesicht sehen musste. „Ist es nicht so?“
Die Wanin grinste und schüttelte ihren Kopf langsam. „Wie, Gott aller Götter, denkst du, hast du die der Macht der Runen erlernt?“ Odin ließ seine Frau los und blickte an die Wand, wo Gungnir hing. „Sei kein Narr, Odin! Du hast dich nicht an dich selbst geopfert. Du spießtest dich an deinem Speer auf, und der Speer steckte…“
„…In Yggdrasil. Der Baum?“
„Alles Leben ist mit dem Baum verknüpft. Iduns Beeren sind direkte Früchte Yggdrasils, weshalb wir so jung bleiben“, erklärte Freya ihrem Mann.
„Und aus den Wurzeln nimmt der Baum seine Kraft…“
„Exakt! Aber…“, sie lief zum Nachttisch und schüttete Met in einen Becher, „das ist nicht alles. Lass mich dir verraten, was Seidr ist.“ Sie gab Odin den Becher voll Met und setzte sich aufs Bett. „Niflheim und Müspelheim. Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Eins liegt tief bei den Wurzeln, das andere ragt hoch über der Krone. Eins kalt und tot, das andere heiß und sprießend mit Leben—zu viel sogar, wenn man den Legenden deines Vaters glaubt. Wie auch immer. Tot ist Kälte, Leben ist Wärme. Leben, das von der Erde verschlungen wurde, sinkt hinab nach Niflheim. Dort entziehen die Wurzeln des Weltbaums das Leben, die Wärme, Niflheims. Das Leben sprießt hoch, über den Stamm, über die Äste, Zweige und Blätter, hoch hinaus bis zur Krone nach Müspelheim. Wärme und folglich Leben ist dort jedoch nicht geordnet, es ist nicht kontrolliert. Die Unmenge an Wärme ist nicht zu bändigen, und somit regiert Chaos als Erste. Etwas der Wärme aus Müspelheim fällt aber hinab auf die unteren Welten. Seidr nutzt diese Wärme. Deshalb ist es stärker, je höher man steht, je näher man an Müspelheim kommt.“
Odin leerte seinen Becher und schüttete sich nochmal voll. „Also ist es schwieriger, Seidr tiefer an Yggdrasils Wurzeln zu nutzen?“
„Es ist unmöglich! Das Leben in den Wurzeln ist zu sehr von Yggdrasil kontrolliert. Seidr funktioniert, weil die Wärme im Überschuss ist und keine Verknüpfung zur Esche hat.“
Odin leerte seinen Becher. „Du irrst dich. Es ist möglich.“
„Woher