Odin erschien auf dem Turm von Himinbjörg, wo er Heimdall traf. „Du wolltest mich sprechen, Wächter?“
Heimdalls linke Auge fixierte sich auf Odin, während das Rechte umherkreiste. „Allvater, du weißt, ich habe nichts übrig für Joten. In der Tat, es wärmt mir das Herz zu sehen, dass ihr Land genommen wird. Wie sehr wir es verdrängen wollen, wir stammen von ihnen ab, ich stamme von ihnen ab. Einer der neun Schwestern, die mich erschaffen hatten, kam zu mir: Jarnsaxa.“
„Sie möchte nach Asgard“, deutete Odin.
„Ja.“
Odin legte seine Hand auf des Wächters Schulter und versicherte ihm, dass seine Mutter in Asgard leben dürfte. Dies wäre aber eine Ausnahme. Ihre acht Schwestern müssten zusehen, dass sie woanders Unterkunft fanden.
Thor kam von seiner Reise von Neu–Midgard zurück und in Gladsheim feierten sie seine Rückkehr und seine stetig wachsende Sammlung an Waffen. Thor teilte seine letzte Ausbeute mit den Asen, als er überraschend eine wunderschöne Frau an Heimdalls Seite sah. „Wer ist sie, Vater? Seine neue Frau?“
„Hahaha. Nein. Es ist seine Mutter Jarnsaxa.“
Thor ließ seine Augen nicht von ihr. Er hatte auf seinen Reisen viele Jotenfrauen gesehen: Sie waren dreckig, barbarisch und manche hässlicher noch als Hel. Er setzte sich neben Kvasir, dem Botschafter zwischen Wanenheim und Asgard. Dieser hob sein Glas und sagte: „Thor, willkommen zurück. (Kvasir folgte den Augen Thors, die zu Jarnsaxa schauten) Ah, ich sehe, du bist auch fasziniert von der neuesten Schönheits Blick. Ja, wie kann eine Jotin so schön sein? Die Haut so weiß sein wie Milch, die Haare so golden wie Honig? Die Haut so zart sein wie Seide, die Lippen so rot sein wie Glut? Die Augen so rot sein wie die Beeren Iduns, die Brüste so voll wie die Körbe Iduns?“
Thor schnappte sich den Becher von Kvasirs Hand und leerte den Met darin. Dann schlug er den Becher auf den Tisch, stand auf und lief zu Jarnsaxa. Dabei dichtete er laut in den Raum: „Wie kann eine Jotin so schön sein? Die Haut so zart wie die Glut, die Haare so voll wie die Körbe Iduns und die Brüste so weiß wie Milch? („Hihihoh, wann hast du ihre Brüste gesehen?“) Wie können die Lippen so rot sein wie die Beeren Iduns, die Haut so golden wie Honig?“ Thor stand vor ihr, der Saal verstummt. Jarnsaxa blickte hoch auf den Asen, seine Haare so rot wie ihre Wangen sich färbten. „Ich habe hunderte Joten gesehen, aber niemand war so schön wie du. Sogar Freys Frau Gerda sieht hässlich aus in deiner Gegenwart. Du musst meine Frau werden.“ Er reichte ihr die Hand. Sie blickte sich im Saal um. Heimdall wirkte missfällig, ebenfalls Freya und Sif, aber dem Allvater zierte stets ein Lächeln, wenn eines seiner Kinder glücklich war. Jarnsaxa nahm Thors Hand und stand auf. Ein kindliches Grinsen sprießte ihm im Gesicht. Er hob die Jotin hoch und trug sie durch den Raum, der größte Schatz, den er den Joten je geraubt hatte. „Sif, ich hab dich natürlich nicht vergessen“, sagte Thor und ging zu seiner grimmig blickenden Frau und warf sie mit einem Arm auf seine Schulter, welche dabei ihre Perücke festhalten musste. Dann ging er mit seinen beiden Frauen auf den Schultern nach Hause nach Bilskirnir.
Die versammelten lachten herzlich über Thors Spektakel. Am meisten freute sich Loki. Er hatte seit langer Zeit nicht so sehr gelacht. Er war wieder gelaunt Witze zu erzählen und Späße zu machen—weiterhin meist auf Kosten anderer. Heidruns Met floss schier endlos an diesem Abend. Thor war nicht der Einzige, der mit einer neuen Frau den nächsten Morgen erleben sollte. Die Asin Sigyn gestand Loki beim Festmahl, dass sie ihn schon seit ihrer Kindheit liebte. Sie liebte seine Späße, seine humorvolle Ader, die Liebe, die er seinen Kindern schenkte, obwohl sie Monster für alle anderen waren. Sigyn wollte auch so lieben, sie wollte auch so geliebt werden. Loki sah zum ersten Mal die Frau in ihr: Schwarze Augen lächelten ihm entgegen; schwarze Strähnen wirbelten auf ihre Brust hinab; ein schwarzes Kleid verziert mit weißen Blüten schmiegte sich an ihre satten Kurven. Er berührte Sigyns Hand und flüsterte ihr ins Ohr: „Weißt du, Thor hatte Recht: Jarnsaxa ist die Schönste…die schönste Jotin. Und du, Sigyn, die schönste Asin.“
Eine Armee für die Götter
ᚹᚨᛚᚺᚨᛚ
Jahrzehnte waren seit der Vermählung von Jarnsaxa und Thor vergangen. Sie gebar ihm zwei Söhne, Magni und Modi. Sie waren sein ganzer Stolz. Als kleine Säuglinge waren sie schon genauso kräftig wie er als er noch ein kleiner Junge war. Orange schimmerten die Haare auf ihren kleinen Häupten.
Auch Loki hatte zwei Söhne mit seiner Ehefrau Sigyn erhalten, die sie Narfi und Vali nannten. Sie lebten gemeinsam in Thors Palast.
Loki liebte alle seine Kinder. Deshalb beschämte es ihn umso mehr, dass er die Kinder, die er mit Sigyn hatte, am meisten liebte. Narfi und Vali waren keine Monster, sie waren gesunde Asen. Sie waren wahre Götter, wie er es immer sein wollte.
Loki besuchte in diesen Jahren selten seine Kinder in Helheim. Hel war nicht mehr alleine mit Fenrir. Die Menschen, die in Midgard starben, wurden von ihr in Helheim wiederbelebt. Es war Odins Plan, er würde diese Menschen eines Tages gebrauchen.
Odin warf den Mantel um Loki und sie erschienen im nächsten Augenblick in Helheim. Bis auf das Rauschen des Wasserfalls war es ruhig. „Fenrir ist wohl auf der Jagd“, sagte Odin, der das Heulen des Wolfes vermisste. Sie schauten über die Weizenfelder auf den Palast auf dem Hügel. Seit der Ankunft der Menschen in Helheim, hat sich diese Welt verändert. Mit jedem neuen Menschen ähnelte es Midgard mehr. Der größte Unterschied lag in der Kälte der Luft und der geschlossenen Decke. Odin warf seinen Mantel erneut über Loki und sie fanden sich in Hels Empfangssaal wieder.
„Vater!“ rief Hel und ging zu Loki, ihn zu umarmen. Sie war kein Mädchen mehr, aber ebenfalls noch keine ausgewachsene Frau. Ebenfalls ist sie nicht aus ihrer Schüchternheit herausgewachsen. „O–Onkel Odin.“
„Wo ist dein Bruder, Fenrir?“ fragte der Ase.
„Ist Fenri‘ nicht draußen? Er–Er ist so groß geworden, er ist eigentlich kaum zu übersehen. Er wird wohl wieder in Mi–Midgard jagen sein.“
„Ich habe ihm doch gesagt, dass er fern von Midgard bleiben soll“, schimpfte Odin.
„Helheim ist zu…zu klein für ihn. Es gibt nicht genug für ihn zu essen. Er…er tut keinem was in Midgard“, verteidigte das Mädchen ihren Bruder.
Odin atmete aus. „Wir können ihn nicht in Midgard laufen lassen, Loki. Die Menschen werden sich fürchten, er wird ihnen ihre Speisen wegfressen. Er kommt zurück nach Asgard.“
„Nach Asgard?“ fragte Loki verwundert. „Freya wird seinen Kopf haben wollen!“
„Fenrir wird nichts geschehen. Du hast mein Wort.“ Loki willigte nur ungern ein, aber er verstand Odins Sorgen um Midgard und seiner sprießenden Armee.
Sie hatten keine Probleme, Fenrir in Midgard zu finden. Der Wolf war bereits so groß wie eine Scheune für ein dutzend Kühe. Mindestens so viele hatte er auch gefressen. Er leckte gerade das Mark aus den Wirbeln von einem Ochsen; um ihn hunderte zerkaute Knochen. Als Fenrir Odin witterte, heulte er und lief auf ihn zu. Loki streichelte seinen Sohn hinterm Ohr. Odin schrie: „FENRIR!“ Der Wolf kauerte und machte sich so klein wie möglich. „Ich hatte dir gesagt, dich aus Midgard fern zu halten. Und nun finden wir dich hier. Du hast genug für drei Dörfer gefressen! Du enttäuschst mich…“ Der Wolf heulte. „Loki, du kennst den Weg zu Bifröst. Bring deinen Sohn nach Asgard. Und keine Verzögerungen.“ Odin warf sich seinen Mantel um und teleportierte zurück nach Helheim.
„Ha–Habt ihr Fenri‘ gefunden?“ fragte Hel. Sie saß auf einem Wippstuhl und Menschen hielten ihr Schalen mit geschälten Nüssen und Früchten vor.
„Wie groß wird er noch wachsen? Selbst Midgard wird noch zu klein für ihn.“
„Unsere ältere Schwester ist groß…vielleicht wird Fenri‘ auch so groß. Aber…aber ich bin nicht groß…ich werde nicht so groß werden. Ich bin anders als sie…“
„Ja, das bist du“, sagte der Ase und tappte auf ihr verschleiertes Haupt.