„Wie das Feuer Müspelheims und das Eis Niflheims zusammenkamen und Leben schufen, so erneut wird der Zusammenprall von Wärme und Kälte eine neue Ära gebären“, sagte die Schwangere.
„Was Freund war, wird Feind“, sagte Urd.
„Was neun ist, wird eins“, sprach Verdandi.
„Was sein wird, wird sein“, schloss Skuld ab.
Sie schwiegen. Nur das Knistern des brennenden Holzes hallte durch die Dunkelheit. Die alte Norne wurde von der Schwangeren wieder zu ihrem Webstuhl geführt, während das Mädchen spielend mit einem Zweig das brennende Holz stoß. Odin erhob sich und verließ die Nornen und die machtentziehende Kälte Niflheims.
Auf der Suche nach Macht
Odin war besorgt von der Prophezeiung der Nornen. Was neun ist, wird eins. Sie mussten damit die neun Welten gemeint haben, die sich auf eins reduzieren würden. Doch welche Welt würde übrig bleiben nach der größten Finsternis? Und woher wussten sie, dass es neun Welten gab? Odin dachte stets, er wäre der Letzte, der von der unbekannten, neunten Welt wusste.
Was Freund war, wird Feind. Wem könnte er nun trauen? Am meisten bestürzte ihn der letzte Satz der Nornen. Was sein wird, wird sein. War er wirklich machtlos gegen das, was kommen würde? Nein! Das könnte nicht sein. Er war der Gott der Götter. Er war mächtiger als alle zuvor. Es müsste einen Weg geben. Er müsste sich auf alles vorbereiten, was ihm die Zukunft stellen könnte.
So begab sich Odin durch die Welten auf der Suche nach Etwas, dass ihn mächtiger machen würde. Er fand auf seinen Reisen die Runen. Es waren dieselben Gravuren, die die Nornen in Yggdrasils Wurzeln eingeschnitzt hatten. Er spürte, dass Runen eine Macht inne hielten, aber er wusste nicht wie er diese nutzen konnte. Er erinnerte sich an Mimirs Worte, als er das erste Mal nach Weisheit fragte: „Was würdest du für die Wahrheit opfern?“
So brachte Odin das größte Opfer, das ihm einfiel: Er opferte sich selbst an sich selbst. Er nahm sein Speer Gungnir und spießte sich am Stamm Yggdrasils auf. Dort hing er in der Nähe von Mimirs Brunnen, wo Mimirs Kopf regungslos lag. Nach neun Tagen des Hungers, Durstes und der Qualen landete ein Falke auf seinem Speer, Gungnir löste sich vom Stamm des Weltenbaums und Odin fiel zu Boden. Der Falke landete neben ihm und verwandelte sich in Freya, die den Speer aus dem Leib ihres Ehemannes herauszog. Sie konnte kein Seidr auf ihn wirken und behandelte seine eitertriefende Wunde mit Arzneimitteln, die sie von der Wanin Malinar gelernt hatte. Odins Frau gab ihm etwas Wasser zu trinken und er begann etwas vor sich hin zu murmeln: „Ich verstehe nun…“ Freya half ihm hoch und setzte ihn an Mimirs Brunnen ab und reinigte seine Wunde mit dem Wasser der Weisheit. Er lehnte sich an die kalten Steine und redete, halb im Wahn: „Die Macht der Runen…Die Macht der Schrift…Unsterblichkeit…“
„Ich bin gleich zurück.“ Freya zog ihr Falkengewand an und flog zurück nach Asgard. Sie schleppte Thor zum Brunnen und der kräftige Sohn trug seinen Vater zurück nach Gladsheim, in seine Schlafkammer.
Der Allvater war tagelang im Bett und ruhte sich von seiner Wunde aus. Die Dienerinnen des Königspaares kümmerten sich um die Verpflegung des Asens. Als Freya nachschauen wollte und in die Schlafkammer ging, lag ihr Mann nicht mehr im Bett. „Hlin“, rief sie nach einer Dienerin, die umgehend zu ihr eilte. Sie war eine junge Asin, die stets ihr Haar gebündelt unter einem bunten Kopftuch trug. Trotz ihrem unterschiedlichen Götterblut diente sie der Wanin gerne. „Wo ist mein Mann? Wo ist Odin?“
„In Himinbjörg. Bei Heimdall. Odin schien es wieder gut zu gehen“, rechtfertigte Hlin ihren Nachlass in ihrer Aufsicht des Kranken.
Freya zog verärgert ihr Falkengewand an und flog hinaus zum Tor Asgards. Als sie sich Heimdalls Palast näherte, flog ihr ein Speer entgegen, dem sie gerade noch ausweichen konnte. Sie wendete ihren Blick auf den Speer und sah wie er von alleine in die Richtung zurückflog, aus dem er geworfen wurde. „PASS AUF!“ krähte Freya schimpfend. Ohne weiteren Störungen entgegenzukommen flog sie zum Palast am Ende der Regenbogenbrücke und landete auf einem der Türme, wo ihr Mann mit Heimdall, Loki und Thor stand und lachte. Sie verwandelte sich zurück in ihre Frauenform und schimpfte auf Odin ein: „WIRF DEINEN SPEER NICHT UMHER WIE EIN KLEINES KIND!“
Die Kinder waren von der bellenden Wanin eingeschüchtert, doch der Einäugige Ase lachte lediglich lauter. „Schau, Freya. Die Macht der Runen“, sagte Odin schließlich und zeigte auf die Gravuren in seinem Speer Gungnir. Die Wanin erholte sich von ihrem Wutausbruch und strich über die Runen; sie gaben eine ihr bekannte Energie von sich. „Lasst uns kurz alleine. Moment…nimm dieses Horn, Heimdall. Es gehörte eins Mimir, aber ohne Körper wird er selbst sowieso nicht mehr trinken. Ich habe es mit Runen versetzt“, sagte er und verwies auf die merkwürdigen Ritze im schwarzen Horn. „ Bläst du hinein, wird der Ton über alle Welten schallen. Doch benutz es nur, wenn Asgard in höchster Gefahr steht.“
Heimdall nahm dankend das unnatürlich große Horn an sich. „Hihihoh, wie weißt du denn, dass es wirklich über alle Welten hallt, wenn du es nicht einmal ausprobiert hast? Blas doch mal rein, Heimdall“, lachte Loki, während sie die Falltür hinabkletterten.
Als Odin mit seiner Frau alleine waren, sprach er: „Freya, meine gute Frau, unterrichte mich in Seidr.“
Sie schüttelte ihren Kopf: „Nein.“
„Ich hab dich nicht drum gebeten. Du tust es!“
Freya blickte verärgert, als könnte sie—sie könnte es wohl—Gift spucken. „Warum jetzt? Reicht dir die Kraft der Runen nicht?“
Odin löste seinen Mantel, legte ihn vor sich hin und schnitt etwas mit seinem Schwert hinein. Dann steckte er die Waffe wieder ein, drückte sich an seine Frau und warf den Mantel über sich und sie. Im nächsten Augenblick waren sie wieder in ihrer Schlafkammer in Gladsheim. „Un–…Unmöglich…“ stotterte Freya und fiel auf ihr Bett.
„Wir sind uns als Feinde begegnet, doch nun sind wir Mann und Frau. Ich bin Allvater, Gott aller Götter, und du folglich die Göttin aller. Zusammen sind wir mächtiger als alle zusammen. Ich werde dir die Runen lehren und du mir Seidr.“ Erregt von der Kraft Odins hob Freya sich vom Bett und umarmte ihn, küsste ihn, den mächtigsten aller Götter. An diesem Tag hörte sie mit der Untreue zu ihrem Mann auf. Sie stoppte ihre Fruchtbarkeit mit Seidr zu unterdrücken und sie würden schon bald ihren zweiten gemeinsamen Sohn zeugen.
Jagd auf die Götter
ᚹᛖᛁᚦᛁᚲᛟᚾᚨ
Die Worte der Nornen suchten Odin selbst in seinem Schlaf heim. Er war restlos. Er zweifelte, dass das Vertrauen in Freya und in ihre Macht ausreichten, für was kommen würde. Er sammelte alle Götter—Asen und Wanen—zum Rat und beauftragte sie, ihm bei der Suche nach Macht behilflich zu sein.
Ständig reiste Odin durch die Welten, nicht selten in Begleitung. Auf einer Reise nach Midgard begleiteten ihn Loki, den er mittlerweile wie einen Sohn sah, und der Ase Hönir, der hübsche Schwätzer, welcher den zweiten Krieg gegen die Wanen ausgelöst hatte. Thor war derweil an der Grenze zu Jotunheim und verteidigte die Tiere vor den Joten.
Für ihre abendliche Mahlzeit pirschten Odin und Loki sich an eine Herde Rinder heran, während Hönir Holz für ein Feuer sammelte. Der Allvater zeigte dem jungen Loki wie er den Wunschmantel benutzen konnte. Odin knöpfte den runenverschnittenen Mantel um die Schultern des Jungen und erklärte, dass er nur an den Ort denken musste, während er den Mantel über sich warf, und er würde sofort an den gedachten Ort verschwinden. „Gut! Wenn du nun verstanden hast wie es funktioniert, geh und reite einen der Kühe oder Bullen zu mir; ich erledige ihn“, sagte Odin.
„Hihihoh, verstanden“, nickte Loki, warf sich den Wunschmantel über und verschwand. Odin schaute zur Herde, doch der Junge war nirgends zu erblicken. Der Ase wartete einen Moment, denn Loki konnte ausversehen an eine andere Kuh gedacht haben. Da plötzlich erschien der Jote auf einem Bullen, er schien Etwas in der Hand zu halten. Der Ochse wütete sofort los, als