»Das stimmt«, erwiderte Englmair. »Die Tatortfotos habe ich nicht dabei, aber das ist auch nicht notwendig. Auf jeden Fall fanden wir in der Brusttasche des Leichnams ebenfalls eine Visitenkarte von dir.«
»Das habe ich befürchtet«, sagte Anja. »Und auf der Rückseite der Karte …«
»… befindet sich wiederum ein blutiger Fingerabdruck«, beendete Plattner grinsend den Satz.
»Allerdings stimmen weder die Abdrücke noch die Blutgruppen auf den beiden Visitenkarten überein«, erläuterte Englmair. »Der Abdruck auf der Visitenkarte, die wir bei Kohler fanden, stammt von einer weiteren Person. Wir wissen allerdings auch hier nicht, von wem, da es wiederum keine Übereinstimmung im AFIS gab. Das Blut gehört zur Gruppe 0 Rhesus positiv. In Deutschland ist das die zweithäufigste Blutgruppe, weltweit sogar die Nummer eins, was die Suche nach dem Ursprung des Blutes nicht unbedingt erleichtern dürfte.«
Anja dachte über alles nach, was sie gehört hatte. »Vorhin, in der Tiefgarage, sagtest du, dass der Abdruck und das Blut auf der ersten Visitenkarte nicht vom zweiten Opfer stammten.«
»Das stimmt«, sagte Englmair. »Es ist weder Kohlers Fingerabdruck noch sein Blut.«
»Dann haben wir jetzt schon zwei Leichen«, meinte Anja, »und möglicherweise noch zwei weitere Opfer, von denen wir bislang nur die Abdrücke haben und die Blutgruppen wissen.«
»Und wir haben höchstwahrscheinlich zwei Serienkiller«, ergänzte Plattner.
»Habt ihr etwa auch ähnliche Mordfälle wie diesen hier entdeckt?«
Englmair wiegte den Kopf hin und her. »Im Gegensatz zum ersten Fall, in dem der Täter mit einer bestimmten Mordwaffe zugeschlagen und denselben Modus Operandi wie in drei anderen Fällen verwendet hat, ist es in diesem Fall schwieriger, Ähnlichkeiten zu anderen Fällen zu finden. Es gab auf jeden Fall schon zahlreiche Mordfälle, in denen jemand erst verprügelt und anschließend getötet wurde. Allerdings wurde nicht jedes dieser Opfer aus dem Fenster geworfen. Manche wurden auf Schienen gelegt oder von Brücken auf Autobahnen geworfen. Und nicht jeder dieser Fälle muss unbedingt von demselben Täter stammen, der auch Kohler umgebracht hat. Aber aufgrund der Visitenkarte gehen wir davon aus, dass wir es hier mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit einem Serientäter zu tun haben.«
»Dass der Widersacher zwei Werkzeuge gleichzeitig einsetzt, ist neu«, meinte Anja mit gerunzelter Stirn und finsterer Miene. »Und es macht mir, ehrlich gesagt, auch ein bisschen Angst. Ein Serienkiller für sich ist bereits angsteinflößend genug, denn bis man so einen Kerl geschnappt hat, falls einem das überhaupt gelingt, hat er meistens schon mehrere Leute umgebracht. Nicht auszudenken, was zwei Psychopathen anrichten können, wenn sie gleichzeitig zuschlagen.«
Anja sah von Englmair zu Plattner und dann wieder zurück zu Englmair. Etwas, das sie in den Mienen der beiden Männer sah, aber nicht eindeutig identifizieren konnte, machte sie jäh misstrauisch. »Was habt ihr zwei denn plötzlich? Ihr schaut mich so komisch an. Irgendwas ist da doch im Busch, oder?« Sie dachte nach, dann seufzte sie. »Sagt mir jetzt bitte nicht, dass es noch ein drittes Opfer und einen dritten Serienmörder gibt.«
Beide Männer nickten synchron, aber nur Englmair machte dabei ein dem Anlass entsprechendes ernstes Gesicht.
Der dritte, und wie Anja hoffte, letzte Tatort an diesem denkwürdigen Tag lag im Luitpoldpark.
Der 33 Hektar große Park liegt im Münchner Norden im Stadtbezirk Schwabing-West. Er wurde 1911 anlässlich des 90. Geburtstages des damaligen Prinzregenten Luitpold eröffnet. Ihm zu Ehren errichtete man einen Obelisken, und in Sichtachse auf das Denkmal wurden 90 Linden für die Lebensjahre des Regenten und 25 Eichen für seine Regierungsjahre gepflanzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Nordteil des Parks aus den Überresten der zerbombten Häuser ein Schuttberg angehäuft. Dieser wurde begrünt und im Jahr 1958 mit einem Bronzekreuz zur Erinnerung an die Opfer der Bombenangriffe gekrönt. Der 37 Meter hohe Luitpoldhügel bietet nicht nur einen ungehinderten Ausblick über das nördliche München, sondern ist im Winter auch ein beliebter Rodelberg. Der Luitpoldpark enthält darüber hinaus zahlreiche Liege- und Spielwiesen, Kinderspielplätze, ein bürgerliches Restaurant mit Biergarten, den Pumucklbrunnen und ein kleines Heckenlabyrinth.
Plattner hatte den Wagen nach einer knapp dreißigminütigen Fahrt auf einem kleinen Anliegerparkplatz an der Ecke Borschtallee und Voelderndorffstraße geparkt, und sie waren das letzte Stück zu Fuß gegangen. Dabei hatten die beiden Kollegen Anja alles erzählt, was sie über die Lebensumstände von Edgar Wimmer, dem dritten Mordopfer, wussten.
Schließlich blieben sie dort stehen, wo der fünfundfünfzigjährige Kellner gestorben war. Auch hier war die Arbeit der Kriminaltechnik längst beendet, die Leiche entfernt und der Tatort freigegeben worden, sodass Anja unwillkürlich ein Gefühl von Déjà-vu erlebte, als sie die verwischten Markierungen und die großflächigen getrockneten Blutflecken auf dem Parkweg sah. Sie war allerdings auch erleichtert. Obwohl sie nun innerhalb kürzester Zeit an den Tatorten von drei Morden gewesen war, war sie gleichwohl mit keiner einzigen Leiche konfrontiert worden. Abgesehen natürlich von den Fotos der toten Psychiaterin, aber das zählte in ihren Augen nicht.
»Muss ich raten, oder erzählt ihr mir einfach, wie Opfer Nummer drei gestorben ist?«, fragte sie nun, da die beiden Männer keine Anstalten machten, von sich aus darüber zu sprechen.
»Ihm wurde die Kehle aufgeschlitzt«, sagte Plattner lapidar.
Als Anja ihn daraufhin ansah, verdeutlichte er seine Worte durch eine entsprechende Geste, als glaubte er, das sei notwendig. Allerdings irritierte es Anja, dass er dabei weiterhin grinste.
»Er ist verblutet«, fügte er dann hinzu.
»Das dachte ich mir bereits«, meinte Anja. »Denn das erklärt das viele Blut, das hier vergossen wurde.«
»Das war aber noch nicht alles, was der Mörder seinem Opfer angetan hat«, sagte Englmair.
»Eigentlich will ich es ja gar nicht wissen«, sagte Anja. »Für einen Tag habe ich nämlich schon genug Scheußliches erfahren. Aber ich befürchte, du wirst es mir trotzdem erzählen.«
Bevor Englmair antworten konnte, platzte allerdings Plattner damit heraus, als wollte unbedingt er es sein, der Anja davon berichtete: »Der Täter hat der Leiche eine Niere entfernt und mitgenommen.«
Anja verzog angewidert das Gesicht. »Echt jetzt?«
Plattner nickte grinsend. »Voll der Hammer, oder?«
Anja konnte seine offensichtliche Begeisterung nicht teilen und schüttelte den Kopf. »Da bin ich jetzt sogar doppelt und dreifach erleichtert, dass die Leiche bereits weggebracht wurde. Und kann mir bitte jemand erklären, warum man die Niere einer Leiche mitnimmt?«
»Entweder wollte er eine Trophäe von seinem Opfer behalten«, meinte Plattner, »oder er hat vor, die Niere zu essen.«
Sowohl Englmair als auch Anja sahen ihren Kollegen daraufhin entsetzt an.
»Warum seht ihr mich so an?«, fragte Plattner und zuckte mit den Schultern. »Das habe ich mir nicht ausgedacht, so etwas ist alles schon mal da gewesen. Denkt nur an Jeffrey Dahmer. Der hob die Köpfe und Körperteile mancher Opfer auf und aß dann Teile davon. Und auch hier in Deutschland gab es bereits derartige Fälle. Zum Beispiel Karl Denke, den Kannibalen von Münsterberg. Er tötete in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts mindestens zwanzig Menschen, zerlegte sie, lagerte das Fleisch in Fässern voller Salzlake und verspeiste es anschließend. Und …«
Englmair unterbrach seinen Partner: »Ich denke, das genügt! Wir haben auch so verstanden, was du uns damit sagen willst.«
Anja wusste nicht, was sie mehr entsetzte. Die Unmenschlichkeit des Mörders, der sein Opfer nicht nur getötet, sondern ihm anschließend auch noch ein Organ für welchen Zweck auch immer entnommen hatte. Oder die sichtliche Begeisterung des frischgebackenen Mordermittlers für dieses Thema und sein beinahe enzyklopädisches Wissen über Serienkiller.
»Eine