INHALTSVERZEICHNIS
Kapitel 1: »Dafür sind Nachbarn doch da.«
PROLOG
Kapitel 1
Sobald sie in der Tiefgarage war, überkam Doris Sonntag stets ein überwältigendes Gefühl der Angst. Auch an diesem Abend war das nicht anders, obwohl die Garage des Hauses, in dem sie und ihr Mann eine Eigentumswohnung besaßen, hell ausgeleuchtet und überschaubar war. Bereits vor neun Jahren, kurz nach ihrem Einzug, hatte Doris auf der Eigentümerversammlung den Antrag gestellt, anstatt der trüben Funzeln hellere Lampen zu installieren. Der Antrag war von den anderen Wohnungseigentümern unterstützt und daher vom Hausverwalter umgehend in die Tat umgesetzt worden. Doch auch die bessere Beleuchtung half nichts gegen die tiefsitzende Angst, die sie jedes Mal empfand, sobald sie aus dem Aufzug trat oder mit dem Wagen in die Tiefgarage fuhr.
Dabei wusste sie als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ganz genau, dass ihre Ängste irrational oder zumindest deutlich übertrieben waren, da sie auf keiner realen Gefahr oder Bedrohung beruhten. Sie hatte auch noch nie ein traumatisches Erlebnis in einer Tiefgarage gehabt, das derartige Ängste nachvollziehbar erscheinen lassen würde. Doch trotz ihres Fachwissens konnte sie sich nicht davon befreien, sondern musste sich ihnen fünf Tage in der Woche mindestens zweimal täglich stellen. Immerhin hatte sie in der Nähe ihrer Praxis einen oberirdischen Stellplatz anmieten können, sodass sie dort nicht an jedem Arbeitstag haargenau in dieselbe Situation geriet.
Als sie nun ihren Wagen, einen obsidianschwarzen Mercedes CLS 350 Coupé, langsam durch die Tiefgarage lenkte, sah sie sich nervös in alle Richtungen um. Sie verrenkte sogar den Kopf, um in die hintersten Ecken sehen zu können. Gleichzeitig musste sie heftig schlucken, um den vermeintlichen Kloß zu entfernen, der in ihrem Hals steckte und ihr die Atmung erschwerte. Diese war ebenso wie ihr Herzschlag unwillkürlich schneller geworden, sobald sie den Wagen durch das geöffnete Tor auf die abwärts führende Rampe gefahren hatte.
Doris hatte erst vor wenigen Tagen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert. Sie war ein Meter sechsundsechzig groß, hatte eine knabenhaft schlanke Statur, kurze mittelbraune Haare und braune ausdrucksstarke Augen, bei denen ihre Patienten unwillkürlich das Gefühl hatten, sie könnte damit bis in die verborgensten Tiefen ihres Innersten blicken. Sie war heute etwas später als sonst dran, weil sie auf dem Heimweg von der Praxis noch am Supermarkt haltgemacht hatte. Normalerweise kauften sie und ihr Mann, der als Chirurg in einer Privatklinik für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie tätig war, samstags für die gesamte Woche