»Wenn es wirklich wichtig ist, dann heraus damit!«, sagte Englmair auffordernd.
Plattner nickte erleichtert. Ausnahmsweise war sogar ihm das Grinsen vergangen, und er sah überraschend ernsthaft aus. Vermutlich kam die Ernsthaftigkeit daher, weil es hier um eines seiner Lieblingsthemen ging. »Ihr habt mir ja beim ersten Tatort in der Tiefgarage erzählt, dass sich dieser Widersacher, der sich im Hintergrund hält, im Darknet Jack nennt. Zuerst hielt ich das ja für einen Witz. Aber soeben ist mir eingefallen, dass Jack the Ripper am 30. September 1888 seinem vierten Opfer Catherine Eddowes, die auch unter dem Spitznamen Kate Kelly bekannt war, eine Niere entnommen hat. Am 16. Oktober 1888 erhielt George Lusk vom Whitechapel Vigilance Committee dann eine kleine Schachtel, dem ein angeblicher Brief des Rippers beilag. Die Schachtel enthielt einen Teil einer menschlichen Niere. Ob sie tatsächlich von Catherine Eddowes stammte, ist allerdings bis heute heftig umstritten. In dem Schreiben behauptete der Absender, dass er das fehlende Stück der Niere gebraten und gegessen habe.« Plattner verstummte und sah seine Kollegen bedeutungsschwer an. »Wenn ihr mich fragt, dann kann das nicht bloß ein Zufall sein.«
Anja musste zunächst den ekelerregenden Bildern Einhalt gebieten, die aufgrund von Plattners Schilderung ihren Verstand überschwemmen wollten. Dann seufzte sie schwer und meinte mit einem zustimmenden Nicken: »Vermutlich ist es alles andere als ein Zufall, denn dafür passt das alles viel zu gut zusammen. Außerdem mag der Widersacher solche gruseligen Details.«
Für mehrere Sekunden schwiegen die drei Ermittler und starrten nachdenklich auf die nur mehr zu erahnenden Umrisse des Mordopfers.
Dann wandte sich Anja an Englmair. »Wann wurde das dritte Opfer eigentlich ermordet?«
»Er hat die Wirtschaft um kurz nach Mitternacht verlassen. Wir gehen daher davon aus, dass er ungefähr um halb eins seinem Mörder begegnet ist.«
»Um diese Uhrzeit dürfte außer den beiden kaum jemand im Park unterwegs gewesen sein«, meinte Anja. »Vermutlich gibt es daher auch keine Zeugen, die den Täter gesehen haben könnten.«
»Genauso ist es«, erwiderte Englmair sichtlich zerknirscht.
»Was ist mit dem Wirtshaus, in dem er arbeitete? Vielleicht hat der Mörder ihn bereits dort beobachtet und ist dabei jemandem aufgefallen.«
»Wir haben natürlich den Wirt, die anderen Bediensteten und ein paar Stammgäste, die wir auftreiben konnten, befragt«, sagte Englmair.
»Und?«
»Niemandem ist ein Gast aufgefallen, der ein ungewöhnliches Interesse an Edgar Wimmer gezeigt hätte.« Englmair zögerte, bevor er weitersprach: »Es gab allerdings an diesem Abend einen Gast, der mehreren Leuten unangenehm aufgefallen ist.«
»Was war das für ein Kerl?«
»Die Zeugen beschrieben ihn übereinstimmend als dicken, ungepflegten Mann«, antwortete Plattner. »Allerdings gehen ihre Beschreibungen zu seiner Person ansonsten weit auseinander, sodass sie im Grunde nicht sehr hilfreich sind. Auf jeden Fall hatte er einen kleinen Hund dabei und benahm sich anscheinend unmöglich. So bestellte er für seinen Hund Mineralwasser, wollte aber nicht dafür bezahlen. Und er hatte scheinbar an allem etwas auszusetzen. Nicht nur Edgar Wimmer, der ihn bediente, war erleichtert, als der Mann schließlich bezahlte und die Wirtschaft verließ.«
»Viel zu auffällig«, meinte Anja nach kurzem Nachdenken und schüttelte den Kopf. »So verhält sich doch niemand, der vorhat, den Kellner umzubringen, der ihn bedient hat und mit dem er unzufrieden war.«
»Das denke ich auch«, sagte Englmair. »Davon ganz abgesehen hatte er einen Hund dabei. Und welcher Serienmörder nimmt schon seinen Hund mit, wenn er seine Morde begeht.«
»Vielleicht hat er den Hund weggebracht und ist dann allein zurückgekommen«, gab Plattner zu bedenken. »Genügend Zeit hatte er ja, bis das Wirtshaus um Mitternacht zumachte und Wimmer nach Hause ging.«
Anja wiegte den Kopf hin und her. »Wie ich schon sagte: Für einen Mörder verhielt sich der Kerl viel zu auffällig. Trotzdem kann er natürlich der Täter gewesen sein, wir sollten daher nichts ausschließen.« Sie überlegte, dann sah sie wieder Englmair an. »Ich gehe mal davon aus, dass es auch in diesem Fall eine Visitenkarte mit einem blutigen Fingerabdruck gab. Sonst stünde ich jetzt vermutlich nicht hier, sondern könnte, wie ich es eigentlich vorhatte, ein paar Runden laufen.«
Englmair nickte. »Es ist genauso wie in den anderen beiden Fällen. Allerdings steckte die Karte in der linken Socke des Leichnams, sodass sie nicht sofort entdeckt wurde. Vermutlich, damit sie nicht blutig wurde. Abdruck und Blut auf der Rückseite der Visitenkarte stammen von einer weiteren, bislang unbekannten Person. Diesmal handelt es sich um die Blutgruppe AB negativ, der seltensten Blutgruppe in Deutschland und weltweit.«
Anja fiel ein, dass ihre Cousine ebenfalls diese Blutgruppe besaß. Sie erschauderte unwillkürlich und beschloss, Tanja später anzurufen, nur um sicherzugehen, dass es ihr gutging. Doch erst einmal musste sie sich auf den vorliegenden Fall konzentrieren. »Gab es ähnliche Fälle wie diesen?«
Die beiden Mordermittler nickten.
»Es gibt sogar eine Reihe derartiger Fälle, in denen in den letzten Jahren dem Mordopfer Organe oder Organteile entnommen wurden«, antwortete Plattner, der sich an diesem Tag als der wahre Experte für Serienkiller entpuppt hatte, der sogar Kalenderdaten historischer Morde auswendig wusste. »Bei einigen dieser Mordfälle wurde den Opfern auch wie hier mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten, sodass man durchaus davon ausgehen kann, dass ein und dieselbe Person und damit ein Serienkiller hinter den Taten stecken könnte.«
»Wieso habe ich davon noch nie etwas gehört?«, fragte Anja.
»Davon erfährt die Öffentlichkeit in der Regel nichts«, sagte Englmair. »Schließlich wollen die ermittelnden Behörden keine Panik erzeugen oder Nachahmungstäter und Trittbrettfahrer auf den Plan rufen. Und solange die Presse keinen Wind davon bekommt und anschließend in riesengroßen Buchstaben Schlagzeilen produziert, bleiben derartige Mordserien ein gut gehütetes Geheimnis der Ermittlungsbehörden.«
»Also haben wir es hier mit sage und schreibe drei Serienkillern gleichzeitig zu tun«, sagte Anja seufzend. »Als hätten Jack und zwei weitere Serienmörder nicht vollends gereicht, uns das Leben schwer zu machen.« Sie warf einen abschließenden Blick auf die Blutflecken, als wollte sie sich das Muster einprägen, und sah sich dann im Park um. Während der Unterhaltung mit den beiden Kollegen hatte sie die Umgebungsgeräusche komplett ausgeblendet, damit diese sie nicht in ihrer Konzentration störten. Erst jetzt wurde ihr das Lärmen der anderen Parkbesucher, vor allem das der zahlreichen Kinder und Hunde, die über die Wiesen rannten und teilweise Bällen hinterherjagten, wieder bewusst. Obwohl hier vor weniger als vierundzwanzig Stunden ein brutaler und grausamer Mord geschehen war, ging das Leben ringsherum scheinbar unbeirrt weiter. Die Leute machten lediglich einen Bogen um die drei Ermittler und die Blutflecken auf dem Weg.
Nachdem Anja das Wichtigste über die drei Mordfälle erfahren hatte, zwischen denen es aufgrund der aufgefundenen Visitenkarten einen unmittelbaren Zusammenhang geben musste, gingen sie zum Auto zurück.
Diesmal setzte sich Englmair hinters Lenkrad. Anja durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, während Plattner sich nach hinten setzte. Zunächst fuhr Englmair zu ihrer Dienststelle in der Hansastraße im Stadtteil Sendling-Westpark. Dort verabschiedete sich Plattner von ihnen und stieg aus. Anschließend brachte der Mordermittler Anja nach Hause. Während der Fahrt sprachen sie allerdings nicht über die Morde, sondern über harmlosere Dinge wie Familie und Freunde. Beide Kriminalbeamten vermieden es auch, über den verstorbenen Anton Krieger und Anjas Suspendierung vom Dienst zu sprechen.
Schließlich brachte Englmair den BMW vor der Einfahrt zu Anjas Grundstück zum Stehen und schaltete den Motor aus.
Anja schnallte sich ab, öffnete aber noch nicht die Tür, denn offensichtlich hatte der Mordermittler noch etwas auf dem Herzen.
»Wir sollten über Personenschutz nachdenken«, sagte er unvermittelt.
»Für