Englmair sah sie zweifelnd an. »Um dein Leben zu schützen, ist es nie zu früh.«
Doch Anja schüttelte entschieden den Kopf. »Ich denke nicht, dass ich jetzt schon in ernsthafter Gefahr bin. Der Mann, der meinen Vater und meinen Ehemann umgebracht hat, liebt es, mit seinen Opfern zu spielen und sie zu quälen, bevor er sie tötet. Das ist für ihn ein wichtiger Bestandteil der Tat und übt vermutlich einen ebenso großen Reiz auf ihn aus wie das Töten selbst. Deshalb wird er auch dieses Mal nicht darauf verzichten wollen. Das Problem ist eher, dass seine Werkzeuge vermutlich erst eine Menge anderer Leute ermorden, bevor sie sich auf mich konzentrieren, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können. Damit will er mir immer wieder meine eigene Hilflosigkeit vor Augen führen, weil ich nicht in der Lage bin, den Tod dieser Leute zu verhindern. So wie ich es auch nicht verhindern konnte, dass mein Vater und mein Mann umgebracht wurden. Der Widersacher will mich vermutlich gar nicht töten, sondern er will erreichen, dass ich daran zerbreche.«
»Das kannst du nicht mit Sicherheit wissen«, wandte Englmair ein. »Vielleicht ist er es allmählich leid und will dieser Sache jetzt rasch ein Ende bereiten, nachdem du ihm und seinen Handlangern jetzt oft genug in die Suppe gespuckt hast. Auch die geduldigste Katze tötet die Maus, wenn sie lange genug mit ihr gespielt hat. Und um diesmal auf Nummer sicher zu gehen, hat Jack jetzt sogar gleich drei von diesen Typen auf dich angesetzt.«
»Wenn es tatsächlich so wäre, dann wären die Kerle gleich bei mir aufgekreuzt und hätten mich ohne Vorwarnung umgebracht. Und dann bräuchte es auch nicht drei Psychopathen, sondern es hätte sogar ein einziger ausgereicht.«
Englmair seufzte und unternahm einen letzten Versuch, sie zur Vernunft zu bringen. »Bist du dir sicher, dass du keinen Schutz benötigst? Wir könnten einen Streifenwagen vor deinem Haus postieren, dann wärst du wenigstens hier geschützt, ohne dass dir ständig jemand folgt.«
»Die Kollegen werden woanders dringender gebraucht. Aber wenn ich irgendwann der Meinung sein sollte, dass ich in Gefahr bin, dann sage ich dir Bescheid.«
»Na gut«, meinte Englmair, obwohl seine verkniffene Miene deutlich zum Ausdruck brachte, dass es für ihn alles andere als gut war. Aber vermutlich hatte er eingesehen, dass er gegen Anjas Sturheit nichts ausrichten konnte. »Aber dann lass mich dir wenigstens etwas geben.«
»Was denn?«
»Mach doch mal das Handschuhfach auf!«
Anja zuckte mit den Schultern und öffnete das Fach. Sofort entdeckte sie eine vollautomatische Pistole, die neben einigen anderen Dingen, die vermutlich viele Autofahrer mit sich führten, wie ein Fremdkörper wirkte.
»Ich nehme mal an, dass du wegen der Suspendierung deine Dienstwaffe abgeben musstest«, sagte Englmair. »Also nimmst du einfach diese Waffe, dann bist du wenigstens nicht völlig schutzlos, und ich kann heute Nacht besser schlafen.«
Anja machte keine Anstalten, nach der Schusswaffe zu greifen. »Was ist das für eine Pistole?«
»Es handelt sich um eine GLOCK 17C, 9 mm Luger, mit einem 19-Schuss-Magazin.«
»Ich wollte nicht wissen, um was für ein Fabrikat es sich handelt, denn das kann ich selbst sehen, sondern woher die Waffe stammt.«
Englmair seufzte. »Sie gehörte Toni.«
Anja sah den Mordermittler aus großen Augen an. »Das war Kriegers Pistole?«
»Natürlich nicht seine Dienstwaffe. Eher so eine Art Ersatzpistole für den Notfall. Allerdings hat sie ihm am Ende auch nichts genützt, denn er hatte sie nicht dabei, sondern in seiner Schreibtischschublade liegen, als er seinem Mörder begegnete.«
Anja dachte daran, dass ihre Dienstwaffe auch mehr Zeit in der Schublade als in einem Holster an ihrem Körper verbracht hatte.
»Er hätte gewollt, dass du sie bekommst«, sagte Englmair.
»Bist du dir sicher?«, fragte Anja skeptisch. »Krieger hat mir misstraut. Und dabei hatte er nicht einmal Unrecht, denn ich war euch und meinen Vorgesetzten gegenüber nicht aufrichtig und habe relevante Dinge verschwiegen und Beweise unterschlagen und vernichtet. Außerdem ist es meine Schuld, dass er tot ist.«
»Das stimmt doch gar nicht«, sagte Englmair aufbrausend. Sie hatten bereits mehrmals darüber gesprochen, doch die Unterhaltung nahm jedes Mal wie ein Gewohnheitstier dieselben ausgetretenen Pfade. »Du kannst nichts dafür, dass er tot ist. Er hat dir zwar misstraut, sich aber auch in dir getäuscht und sich in eine fixe Idee verrannt, weil er dachte, du wärst aktiv in die Morde verwickelt. Insofern ist er dem Widersacher auf den Leim gegangen. Toni hat seinen Tod selbst verschuldet, weil er dir nachgeschnüffelt hat. Du kanntest ihn nicht so gut wie ich. Deshalb sage ich dir, dass er gewollt hätte, dass du seine Waffe bekommst, um dich gegen die Handlanger des Widersachers zur Wehr zu setzen und dem Dreckskerl endlich das Handwerk zu legen.«
Anja seufzte. »Ist die Waffe sauber?«
»Natürlich«, entgegnete Englmair entrüstet. »Ich weiß zwar nicht, wo Toni sie herhatte, aber sie ist absolut sauber. Außerdem hat er sie ohnehin nie benutzen müssen.«
Anja überlegte. Sie glaubte zwar nicht, dass die Handlanger des Widersachers ihr so bald auf die Pelle rücken würden, doch womöglich hatte Englmair recht, und Jack hatte diesmal die Spielregeln geändert. Schließlich war der Kerl unberechenbar. In dem Fall würde sie sich ein wenig sicherer fühlen, wenn sie eine Schusswaffe in Reichweite hätte. Und wenn sie sich irrte, könnte sie darauf zurückgreifen und müsste ihren Irrtum nicht gleich mit dem Leben bezahlen. Daher nickte sie schließlich. »Okay, du hast mich überredet. Ich nehme die Pistole. Aber nur als Leihgabe und allerletzten Ausweg.«
»Als das ist sie auch gedacht.«
Anja nahm die Waffe und klappte das Handschuhfach wieder zu. »Danke.«
»Nichts zu danken«, sagte Englmair. »Ich hoffe, du brauchst das Ding gar nicht. Aber falls doch, ist es mir Dank genug, wenn du das Aufeinandertreffen mit einem von Jacks Handlangern mit der Hilfe von Tonis Waffe unbeschadet überstehst.«
Anja steckte die Pistole in die Kängurutasche ihres Kapuzenpullis und wechselte das Thema. »Du sagst mir Bescheid, wenn ihr mit euren Ermittlungen in den drei Mordfällen Fortschritte macht?«
»Auf jeden Fall. Und was hat sich bei dir so ergeben? Du wolltest doch das Foto von dem Auto, das du von Jana Albrecht bekommen hast, deiner Mutter zeigen.«
»Das habe ich vor Kurzem auch getan«, erwiderte Anja. »Dabei habe ich sie gefragt, ob sie sich an ein derartiges Auto oder das Kennzeichen erinnern kann.«
»Und? Was hat sie dazu gesagt?«
»Sie hat kurz gezögert, als käme es ihr vage bekannt vor, sodass ich schon die Hoffnung hatte, sie könnte mir endlich zum Durchbruch verhelfen. Doch dann hat sie den Kopf geschüttelt und erklärt, dass sie sich weder an das Auto noch an das Nummernschild erinnern könne. Allerdings hat sie mir versprochen, weiter darüber nachzudenken, falls ihr doch noch etwas einfällt. Bis jetzt habe ich allerdings noch nichts von ihr gehört. Ich werde sie aber gleich anrufen, sobald ich im Haus bin.«
»Dann können wir nur hoffen, dass sie sich doch noch an etwas erinnert«, sagte Englmair. Er hörte sich aber nicht so an, als hegte er in dieser Hinsicht allzu große Hoffnung. »Denn außer dem Foto haben wir momentan keine anderen Anhaltspunkte. Und solange Jack und seine drei neuen Freunde keinen schwerwiegenden Fehler begehen, können wir nicht viel mehr tun, als darauf zu warten, dass sie erneut zuschlagen.«
Anja nickte zustimmend. Der Gedanke, dass sie momentan nichts gegen die drei Mörder unternehmen konnten, um sie zu stoppen, war niederschmetternd und bedrückte sie. Allerdings konnte sie daran nichts ändern.
Für mehrere Sekunden schwiegen beide und dachten über das Gesagte und Gehörte nach, bevor Anja schließlich die Tür öffnete und aus dem Wagen stieg.