»Von wegen Kriminaldauerdienst«, entgegnete Kriminaloberkommissar Andreas Plattner grinsend. »Ich bin jetzt beim Mord.«
Plattner war einunddreißig Jahre alt, ein Meter einundachtzig groß und schlank. Er hatte blassgrüne Augen, kurzgeschnittenes rotbraunes Haar und einen rotbraunen Vollbart. Jedes Mal, wenn Anja ihn sah, erinnerte er sie unwillkürlich an den irischen Schauspieler Michael Fassbender. Anja hatte ihn – den Kollegen, nicht Michael Fassbender! – vor wenigen Wochen kennengelernt. Damals hatte er mit Kriminalhauptkommissarin Melissa Schubert ein Team des kriminalpolizeilichen Dauerdienstes gebildet, dem Bereitschaftsdienst der Kripo. Allerdings hatte er Anja schon damals erzählt, dass er gern zur Mordkommission wechseln wollte, sobald dort eine Stelle frei werden sollte, weil ihn Todesfälle interessierten. Nicht nur das hatte Anja, die nach Möglichkeit einen großen Bogen um jede Leiche machte, an ihm irritiert, sondern auch seine nervige Angewohnheit, ständig, selbst in den unpassendsten Momenten, breit zu grinsen.
»Glückwunsch«, sagte Anja, trat näher und schüttelte ihm die Hand. »Dann hat es ja endlich geklappt, und Ihr Traum wurde wahr.«
»Ja.« Er lächelte mit stolzgeschwellter Brust, doch dann verschwand das Lächeln jäh aus seinem Gesicht und machte einer betroffenen Miene Platz. »Allerdings gibt es bei der Geschichte auch einen Wermutstropfen. Denn es musste erst ein Kollege sterben, bevor ich endlich zur Mordkommission wechseln konnte.«
»Ach.« Anja riss überrascht die Augen auf. »Sie meinen Anton Krieger. Dann haben Sie also seine Stelle und arbeiten jetzt mit Peter Englmair zusammen?«
Plattner nickte. »Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.«
Anja schüttelte den Kopf. »Wieso sollte es?«
»Na ja, Sie kannten Krieger doch und haben oft mit ihm zusammengearbeitet. Da dachte ich …« Er ließ den Rest ungesagt, als wüsste er nicht, wie er den Satz beenden sollte.
»Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich kannte Anton Krieger und schätzte ihn auch als Polizisten, aber wir waren nicht unbedingt die besten Freunde.« Was sogar noch gewaltig untertrieben war, aber mehr musste Plattner Anjas Ansicht nach nicht wissen. »Außerdem ist er tot, so traurig das auch ist, und irgendjemand musste die freie Position übernehmen. Warum also nicht Sie, wenn das ohnehin Ihr Herzenswunsch war?«
Das Grinsen kehrte auf Plattners Gesicht zurück. »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen«, meinte er. »Ich befürchtete schon, Sie würden mich nicht als Peter Englmairs neuen Kollegen in der Mordkommission akzeptieren.«
»Im Gegenteil, ich freue mich für Sie. Außerdem kann Englmair Ihre Hilfe bestimmt gut gebrauchen. Aber was hat denn Ihre bisherige Kollegin beim KDD dazu gesagt?«
Plattner schnitt eine Grimasse. »Als ich es ihr erzählte, war sie natürlich im ersten Moment ganz schön angefressen und wollte gar nicht mehr mit mir reden. Aber dann hat sie es schließlich doch akzeptiert. Sie hat jetzt einen neuen Partner, der vorher beim Einbruchsdezernat war. Und wie ich hörte, kommen die beiden prima miteinander aus, sodass Melissa mir mittlerweile verziehen hat.«
»Und wie lange sind Sie jetzt schon beim Mord?«
»Seit drei Wochen«, sagte Plattner grinsend. »Ich bin also in Sachen Mord gewissermaßen noch grün hinter den Ohren.«
»Das wird sich schnell ändern, da bin ich mir sicher«, entgegnete Anja. »Und in Peter Englmair haben Sie einen guten Lehrmeister. Aber was führt Sie zu mir?« Sie hob Einhalt gebietend die Hand, als der frischgebackene Mordermittler antworten wollte. »Lassen Sie mich raten: Sie kommen natürlich wegen eines Mordfalls.«
Plattner wiegte den Kopf hin und her. »Sozusagen.«
»Was heißt hier sozusagen?«
»Lassen Sie sich überraschen.«
Anja hatte schon bei ihrer ersten Begegnung bemerkt, dass der Kollege sich gern geheimniskrämerisch gab. »Und was heißt das?«
»Mein Kollege hat mich hergeschickt. Er hat mir aufgetragen, Sie abzuholen. Sie sollen sich etwas ansehen.«
Eine ungute Ahnung befiel Anja. In der Regel hatte es für sie nichts Gutes zu bedeuten gehabt, wenn die Kollegen der Mordkommission sie in letzter Zeit zu einem Tatort gerufen hatten. Außerdem erschauderte sie schon allein bei dem Gedanken, dass sie es heute noch mit einem Leichnam zu tun bekommen könnte. »Ich wollte zum Joggen gehen«, wandte sie daher ein.
»Das kann warten.«
»Kann ich mich wenigstens vorher noch duschen und umziehen?« Das würde das unangenehme Erlebnis zwar nur hinauszögern, aber immerhin hätte sie mehr Zeit, sich mental darauf vorzubereiten.
»Nicht nötig«, sagte Plattner. »Da, wo wir hingehen, reicht ihr Outfit allemal. Außerdem wartet Peter ungeduldig auf uns.«
Anja seufzte tief. »Na gut.« Sie wandte sich ab und umrundete den Wagen des Mordermittlers. »Aber beschweren Sie sich hinterher bloß nicht, dass es in ihrem Auto nach Schweiß riecht. Ich habe nämlich heute die Wände und die Decke meines Arbeitszimmers geweißelt und bin dabei gehörig ins Schwitzen gekommen.«
»Ich werde es überleben«, erwiderte Plattner grinsend, setzte sich wieder hinters Steuer und schloss die Tür.
Sie nahm neben ihm Platz. Bevor sie sich anschnallen konnte, fuhr Plattner bereits rückwärts aus der Einfahrt. »Wieso haben wir es so eilig?«
»Weil ich der Neue im Team bin und meinen Kollegen ungern warten lasse, wenn er mir einen Auftrag erteilt.«
Anja nickte verständnisvoll. »Verstehe. Na, dann geben Sie mal tüchtig Gas, damit Englmair nicht länger als unbedingt notwendig auf uns warten muss.«
»Zu Befehl!«, sagte Plattner und tat genau das.
Ihr Ziel lag in Harlaching, einem Stadtteil mit viel Grün und zugleich eine der ruhigsten und vornehmsten Wohngegenden Münchens, unmittelbar an der Isar gelegen und in Nachbarschaft zum Tierpark Hellabrunn sowie zu den Trainingsstätten des FC Bayern München.
Trotz des dichten Verkehrs, des einen oder anderen leichten Staus und einer Baustelle schafften sie die Strecke erstaunlich rasch in fünfundzwanzig Minuten.
Plattner hielt vor einem imposanten und stilvollen Mehrfamilienhaus unweit des Tierparks, und sie stiegen aus.
Anja sah sich um. Sie hatte einen Tatort mit dem üblichen Aufgebot an Streifenpolizisten, Kriminaltechnikern, Mordermittlern und dem unvermeidlichen Gerichtsmediziner erwartet, doch davon war nicht das Geringste zu entdecken. Sie sah daher Plattner fragend an und hob die Schultern.
»Kommen Sie!«, forderte er sie mit dem obligatorischen Grinsen im Gesicht auf und ging voraus.
Sie zuckte mit den Schultern und seufzte. Doch was blieb ihr anderes übrig, als ihm zu folgen?
Es ging zu einer Tiefgaragenzufahrt. An den Überresten eines rotweißen Flatterbands, die hier und da noch herumlagen, erkannte Anja, dass die Tiefgarage bis vor Kurzem gesperrt gewesen sein musste. Allmählich wurde es interessant. Da das Zufahrtstor offen war, konnten sie die unterirdische Garage ungehindert betreten. Im Licht der für eine Tiefgarage erstaunlich hellen Beleuchtung bewunderte Anja die Autos, die auf einigen Stellplätzen geparkt waren. Es handelte sich fast ausschließlich um Fahrzeuge der Oberklasse oder schnittige Sportwagen. Mit einem schwarzen Mercedes, den sie auf ihrem Weg passierten, hatten sich offensichtlich intensiv die Kriminaltechniker befasst, denn das Fahrzeug war an zahlreichen Stellen, vor allem an der Fahrertür und am Kofferraumdeckel, mit weißem Fingerabdruckpulver bestäubt.
Schließlich entdeckte sie auch Kriminalhauptkommissar Peter Englmair von der Mordkommission, der in der Nähe der Aufzugstür stand und ihnen erwartungsvoll entgegensah.
Englmair war 42 Jahre alt, von durchschnittlicher Statur und eins achtzig groß. Er hatte kurze dunkelblonde Haare und grünbraune Augen.
Erst als sie sich ihm bis auf