DER ABGRUND JENSEITS DES TODES. Eberhard Weidner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eberhard Weidner
Издательство: Bookwire
Серия: Anja Spangenberg
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214309
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»Engel« spielte, aus der Tasche ihrer Jogginghose. Sie warf einen Blick auf die unbekannte Nummer, die im Display angezeigt wurde. Allerdings konnte sie nichts damit anfangen. Sie zuckte mit den Schultern, nahm den Anruf entgegen und hob das Gerät ans Ohr.

      »Spangenberg.«

      Sie musterte sich im Spiegel, der neben der Garderobe an der Wand hing, und begegnete dem kritischen Blick ihrer grünen Augen. Ihr herzförmiges Gesicht mit den hohen, markanten Wangenknochen und der schmalen, geraden Nase war gerötet und verschwitzt. Aber das war normal, nachdem sie wie fast an jedem Tag, an dem kein Unwetter herrschte oder Schneesturm tobte, durch den Westpark gelaufen war. Obwohl das Zwielicht im Flur ihrem Äußeren schmeichelte und die eine oder andere Unzulänglichkeit kaschierte, war Anja nicht unzufrieden mit ihrem Äußeren. Sie hätte es beileibe schlechter treffen können. Lediglich ihr Mund gefiel ihr ganz und gar nicht. Er war ihrer Meinung nach zu breit und besaß zu schmale Lippen, sodass er einen maskulinen Eindruck erweckte. Und auch ihr dunkelblondes Haar bereitete ihr fortwährend Kummer. Da es ständig zerzaust war, egal, was sie damit anstellte, hatte sie es auf Anraten ihrer Friseurin zu einer praktischen Kurzhaarfrisur schneiden lassen, die man Garçon-Schnitt nannte. Dennoch sah sie immerzu so aus, als wäre sie in einen heftigen Sturm geraten.

      »Wunderschönen guten Morgen, liebste Frau Kollegin«, sagte der Anrufer.

      Anja erkannte die Stimme sofort, obwohl sie mit ihrem Besitzer zum Glück nur selten zu tun hatte. Man traf sich allenfalls sporadisch, wenn sich ihre Aufgabenbereiche überschnitten, weil eine ihrer Vermissten ermordet worden war. Glücklicherweise kam das nicht allzu oft vor. Und manchmal begegnete man sich auch im Aufzug oder in der Kantine. Allerdings war seine Stimme äußerst charakteristisch. Sie klang stets etwas anbiedernd und einschleimend, vor allem, wenn er mit Vorgesetzten oder Frauen sprach.

      Sie verzog missmutig das Gesicht und beobachtete sich weiterhin im Spiegel. Wenn ein Kollege vom Kommissariat 11, das für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig war und meistens nur als Mordkommission bezeichnet wurde, um sieben Uhr in der Früh anrief, konnte das nichts Gutes bedeuten.

      »Morgen, Krieger. Was verschafft mir die seltene Ehre deines Anrufs?«

      »Habe ich dich etwa aufgeweckt?« Er hörte sich nicht so an, als würde er das auch nur im Mindesten bedauern. Eher so, als hätte er dabei Bilder im Kopf, die ihm Freude bereiteten.

      »Nein. Ich komme gerade vom Joggen.«

      »Schade.« Er seufzte. »Dabei hab ich mir schon vorgestellt, dass du noch im Bett liegst, vollkommen nackt, und dich räkelst und streckst, während wir miteinander sprechen.«

      »Und dabei ist dir vermutlich auch noch einer abgegangen«, versetzte Anja und schüttelte den Kopf. »Träum weiter, Krieger! Aber wie wär’s, wenn du endlich zur Sache kommst. Du rufst mich doch nicht vor der Arbeit an, um mich mit deinen sexuellen Fantasien zu belästigen. Oder bist du neuerdings unter die Stöhnanrufer gegangen?«

      Anton Krieger lachte anzüglich. »Ich liebe es, wenn du mir schmutzige Kosenamen gibst, Baby.«

      Anja verdrehte die Augen, während sie in die Küche ging, um die Kaffeemaschine anzuschalten, die sie schon vor dem Joggen vorbereitet hatte. »Komm endlich zur Sache, Anton!«

      Krieger verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Die Benutzung seines Vornamens war ein deutliches Zeichen, dass es Anja allmählich zu bunt wurde. Er legte den Schalter um und wurde augenblicklich ernst und professionell.

      »Wir haben eine weibliche Leiche.«

      »Ist das etwas Neues? Ich dachte, ihr zwei seid bei der Mordkommission. Da dürfte das doch öfter vorkommen.«

      Mit ihr zwei meinte Anja Kriminaloberkommissar Anton Krieger und seinen Kollegen, Kriminalhauptkommissar Peter Englmair. Die beiden waren unzertrennlich. Da einer selten ohne den anderen auftauchte, wurden sie in der Dienststelle die siamesischen Zwillinge genannt.

      »Sehr witzig«, sagte Krieger, der jetzt, als es um berufliche Dinge ging, plötzlich keinen Spaß mehr verstand.

      Auch Anja wurde ernst, während sie sich Kaffee in einen großen Henkelbecher goss. »Glaubt ihr etwa, dass es sich um eine meiner Vermissten handelt?«

      Anja war Kriminalhauptkommissarin bei der Kripo. Sie arbeitete allerdings im Kommissariat 14, auch K14 genannt. Die sogenannte Vermisstenstelle war für Vermisste und unbekannte Tote zuständig. Wobei sich Anjas Zuständigkeit zu ihrer grenzenlosen Erleichterung auf Vermisstenfälle beschränkte, denn mit Leichen hatte sie nur äußerst ungern zu tun.

      »Ja.«

      »Und wer?«

      »Eine Frau namens Nadine Weinhart.«

      Anja hatte nach der Nennung des Namens sofort das dazugehörige Foto im Kopf. Die Mutter der Vermissten hatte es ihr gegeben. Obwohl sie mehr offene Fälle bearbeitete, als ihr lieb sein konnte, hatte sie viele Daten und Fakten im Kopf abgespeichert, um nicht ständig in den Akten blättern zu müssen. Und das Verschwinden von Nadine Weinhart war ihr aufgrund der Begleitumstände besonders zu Herzen gegangen.

      Die 33-jährige Krankenschwester mit den kurzen weißblonden Haaren war vor drei Monaten verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Weder die Mutter, die sie als vermisst gemeldet hatte, noch die beste Freundin konnten sich ihr Verschwinden erklären. Sie hatten übereinstimmend erzählt, dass Nadine in den Wochen vor ihrem Verschwinden über heftige Kopfschmerzen und Übelkeit geklagt hatte. Anja hatte daraufhin mit dem Hausarzt gesprochen, der sie wiederum an den Neurologen verwiesen hatte, zu dem er seine Patientin geschickt hatte. Am Ende hatte sich Anja mit dem zuständigen Facharzt in einer radiologischen Praxis unterhalten. Er hatte bei Nadine am Tag ihres Verschwindens eine inoperable Geschwulst im Gehirn diagnostiziert. Es gab zwar die Möglichkeit, dem Tumor mit einer Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie zu Leibe zu rücken, doch die Erfolgschancen waren in Nadines Fall eher gering gewesen. Deshalb war Anja, nachdem Nadine auch nach zwei Wochen nicht wieder aufgetaucht war, insgeheim davon ausgegangen, dass sie sich das Leben genommen hatte, bislang aber noch nicht gefunden worden war. Bis heute!

      »Was ist passiert? Suizid?«

      Krieger lachte, allerdings absolut humorlos. »Wenn das ein Selbstmord war, dann ist es der bizarrste, der mir jemals untergekommen ist.«

      »Was soll das heißen?« Anja stellte den Kaffeebecher ab, aus dem sie erst wenige Schlucke getrunken hatte.

      »Es ist … kompliziert. Komm einfach her. Dann kannst du es dir mit eigenen Augen ansehen.«

      »Gut. Aber ich muss erst noch unter die Dusche.«

      Krieger stöhnte auf obszöne Weise. »Du glaubst ja nicht, welche Bilder mir jetzt durch den Kopf gehen.« Nachdem er ihr mitgeteilt hatte, was er hatte loswerden wollen, war er in seinen üblichen Arschloch-Modus zurückgefallen.

      »So genau will ich das gar nicht wissen.« Anja war bereits auf dem Weg ins Bad, um dort die Laufschuhe abzustreifen und die Jogginghose, das Shirt, den Sport-BH und den Slip auszuziehen. »Wo finde ich dich und Englmair? Seid ihr am Tatort?«

      »Ja, aber nicht mehr lange. Die Leiche wird gerade weggebracht. Deshalb treffen wir uns am besten in einer halben Stunde in der Gerichtsmedizin.«

      IV

      Sie duschte in Rekordzeit. Anschließend kämpfte sie fünf Minuten lang mit ihren widerspenstigen Haaren, bevor sie wie immer aufseufzend kapitulierte. Sie zog frische Unterwäsche, eine enge, graue Jeans und ein langärmliges, weißes Shirt an. Dann schlüpfte sie in schwarze Stiefeletten mit hohen, schmalen Absätzen. Zum Glück musste sie in ihrem Aufgabenbereich keine flüchtigen Verbrecher verfolgen; so etwas wäre in diesen Schuhen unmöglich gewesen. Obwohl sie das Schulterholster mit ihrer Dienstwaffe nicht trug, weil beides wie so oft in der Schublade ihres Büroschreibtischs lag, zog sie eine Blousonjacke aus schwarzer Seide über. Bevor sie ging, trank sie ihren Kaffee aus, der nur noch lauwarm war. Dann schaltete sie die Kaffeemaschine aus, schnappte sich ihren Schlüsselbund und verließ die Wohnung.

      Anja bewohnte eine 78,5 Quadratmeter große 3-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock