»Guten Morgen, Raphael.«
Er blickte auf und lächelte, sobald er sie sah. Allerdings sah er müde und erschöpft aus.
Raphael Guthmann war wenige Zentimeter größer als Anja, aber ebenso schlank. Er hatte braune Augen, dunkelbraune Haare und war wie immer unrasiert. Obwohl Anja nicht auf dunkelhaarige Männer mit Dreitagebart, sondern eher auf den großen und breitschultrigen blonden Wikingertyp stand, musste sie zugeben, dass Raphael nicht schlecht aussah. Gleichwohl hatte es zwischen ihnen nie gefunkt. Sie waren lediglich Nachbarn und gute Freunde. Und das war nach Anjas Ansicht auch gut so. Erstens passte er nicht in ihr Beuteschema, und zweitens hatte sie nach der Trennung von ihrem Mann Fabian, die erst wenige Monate zurücklag, dringend eine Auszeit in Sachen Beziehung gebraucht. Und auch Raphael hatte nie erkennen lassen, dass er sich von ihr mehr als nur Freundschaft und gute Nachbarschaft erhoffte, obwohl er, seit Anja ihn kannte, Single war. Aber er war dennoch immer für sie da, wenn sie ihn brauchte. Sofern er nicht gerade in seinem Taxi saß und Leute durch die Landeshauptstadt kutschierte. Er war zuverlässig und hilfsbereit und lieh Anja ein Ohr, wenn sie kurzerhand jemanden brauchte, dem sie ihre Sorgen und Nöte anvertrauen konnte. Außerdem gingen sie oft zusammen im Westpark joggen oder gelegentlich zu einem Spiel des FC Bayern Basketball, da Anja eine Vorliebe für große Männer hatte.
»Nachtschicht?«, fragte sie. Obwohl sie es eilig hatte, nahm sie sich die Zeit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Sie hatte schon in weltrekordverdächtiger Zeit geduscht und benötigte bis zum Institut für Rechtsmedizin um diese Uhrzeit mit dem Wagen gerade einmal zehn Minuten.
Er nickte. Dann, als hätte ihn erst ihre Frage wieder daran erinnert, wie müde er war, riss er den Mund auf und gähnte. Schnell hob er die Hand vor den Mund. »Tschuldigung«, sagte er und zuckte mit den Schultern.
Anja winkte ab.
Raphael war Taxifahrer und wechselte sich regelmäßig mit einem Kollegen ab. Mal hatte der eine die Tagschicht und der andere die ungeliebte Nachtschicht. In der Woche darauf war es dann umgekehrt. Allerdings machte es der ständige Wechsel schwer, sich vor allem an die nächtlichen Arbeitszeiten zu gewöhnen.
Als Polizistin hatte sich Anja auch schon so manche Nacht um die Ohren schlagen müssen. Zum Glück gehörte das größtenteils der Vergangenheit an, seit sie in der Vermisstenstelle arbeitete. Dennoch wusste sie noch genau, wie es sich anfühlte, wenn man am nächsten Morgen müde und zerschlagen nach Hause kam, während alle anderen gerade aufgestanden und ekelerregend munter und fröhlich waren.
»Und was ist mit dir?«, fragte Raphael und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »So früh schon auf dem Weg zur Arbeit?«
»Sozusagen. Allerdings geht es nicht ins Büro, sondern direkt in die Rechtsmedizin.«
Er verzog angewidert das Gesicht. Er teilte diese Reaktion mit vielen anderen Menschen, sobald Anja das Wort Rechtsmedizin aussprach. Allerdings freute auch sie sich nicht darauf, den Ort aufsuchen und eine Leiche identifizieren zu müssen. Im Gegenteil, sie hasste es geradezu! Aber manchmal – zum Glück nicht allzu oft – gehörte das eben zu ihrem Job.
»Was ist passiert? Hat sich einer deiner Vermissten umgebracht?«
Anja war vor gut fünf Monaten nach der abrupten Trennung von ihrem Mann und einem vierwöchigen Aufenthalt bei ihrer Mutter in dieses Haus gezogen. Sie hatte sich schnell mit ihrem unmittelbaren Wohnungsnachbarn angefreundet. Zu den anderen Bewohnern hatte sie allerdings außer einem gelegentlichen »Grüß Gott« im Treppenhaus noch immer kaum Kontakt. Da sie nach dem endgültigen Scheitern ihrer Ehe emotional angeschlagen gewesen war, hatte sie sich anfangs mehr als einmal im übertragenen Sinne an Raphaels Schulter ausgeweint und ihm ihr Leid geklagt. Und er hatte stets ein offenes Ohr für sie gehabt, ihr aufmerksam und geduldig zugehört oder Ratschläge erteilt. Darüber hinaus hatte er versucht, sie anschließend wieder aufzurichten und ihr erschüttertes Selbstwertgefühl zu stärken. Ohne seine Hilfe hätte sie vermutlich viel länger gebraucht, die unausweichliche Trennung zu verarbeiten. Vor allem, weil sie Fabian trotz allem noch immer liebte. Außerdem hatte ihr Noch-Ehemann lange Zeit mit allen Mitteln versucht, sie dazu zu bringen, zu ihm zurückzukehren. Doch Anja wollte seine wiederholten Seitensprünge nicht länger hinnehmen und war hart geblieben. Mittlerweile war sie halbwegs darüber hinweg. Dennoch trafen Raphael und sie sich noch immer mehr oder weniger regelmäßig in einer ihrer Wohnungen und erzählten sich Anekdoten von ihrer jeweiligen Arbeit.
Anja schüttelte den Kopf. »Der Kollege von der Mordkommission, der mich anrief, meinte, dass es dann der bizarrste Selbstmord sei, den er je gesehen habe.«
»Was dann? Mord?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Aber Genaueres weiß ich erst, sobald ich die Leiche gesehen und die Todesumstände erfahren habe.«
Raphael verzog erneut das Gesicht und schüttelte sich, als würde er am ganzen Körper erschaudern. »Da kann ich mir wirklich Schöneres vorstellen, als den Tag mit einem Leichnam in der Pathologie zu beginnen. Und ich dachte, du magst keine Leichen. Deshalb bist du ja auch nicht zur Mordkommission gegangen, oder?«
»Ich mag tatsächlich keine Leichen«, sagte Anja, die während des Duschens jeden Gedanken daran verdrängt hatte, wo sie danach hinmusste und was sie dort erwartete. »Aber manchmal lässt es sich eben nicht vermeiden, dass ich dennoch mit ihnen in Berührung komme. Das bringt die Arbeit bei der Vermisstenstelle eben so mit sich. Wenigstens habe ich nicht ständig und ausschließlich damit zu tun wie die Kollegen von der Mordkommission oder die Todesermittler.«
»Na dann viel Spaß.« Raphael gähnte erneut.
Diesmal war es Anja, die missmutig das Gesicht verzog. »Von Spaß kann keine Rede sein. Vor allem, wenn es sich tatsächlich um eine meiner Vermissten handelt. Trotzdem danke. Aber jetzt muss ich los, sonst komme ich zu spät. Und für dich wird es höchste Zeit, dass du endlich ins Bett kommst. Ich wünsche dir einen erholsamen Schlaf.«
Sie verabschiedeten sich voneinander. Anschließend setzte Anja mit eiligen Schritten ihren Weg nach unten fort, während Raphael mit langsamen, müden Bewegungen nach oben stieg.
Sie machte einen kurzen Abstecher zu den Briefkästen. Dort sah sie, dass die Ecke eines beigefarbenen Umschlags aus der Klappe ihres Briefkastens herausschaute. Also öffnete sie den Kasten, entnahm ihm das Kuvert und setzte ihren Weg in die Tiefgarage fort. Sie warf einen kurzen Blick auf den Umschlag. In großen schwarzen Druckbuchstaben stand lediglich ihr Name darauf. Ein Absender war nicht angegeben. Sie war neugierig, was der Umschlag enthielt und wer ihn eingeworfen hatte. Allerdings hatte sie jetzt keine Zeit, ihn zu öffnen und sich den Inhalt anzusehen. Deshalb warf sie ihn ungeöffnet auf den Beifahrersitz, sobald sie hinterm Steuer saß, und fuhr los.
Nachdem sie die Tiefgarage hinter sich gelassen hatte, nahm sie den kürzesten Weg über die Hansastraße, den Bavariaring und die Lindwurmstraße. In der Nähe des Goetheplatzes musste sie scharf bremsen, weil ein rücksichtsloser Porsche-Cayenne-Fahrer sich unvermittelt vor ihr in ihre Spur drängte und sie schnitt. Dabei rutschte der Umschlag vom Beifahrersitz und fiel in den Fußraum. Aber das bemerkte sie in ihrer Empörung nicht. Sie hupte mehrmals und schimpfte laut, doch das beeindruckte den anderen Fahrer nicht. Er fuhr einfach weiter und bog bei nächster Gelegenheit rechts ab.
Als Anja wenige Minuten später ihr Ziel erreichte, hatte sie sowohl den Vorfall als auch den Umschlag schon wieder vergessen. Schließlich gab es momentan Wichtigeres, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste.
V
Das Institut für Rechtsmedizin der Universität München befindet sich in der Nußbaumstraße. Es besteht aus einem Altbau mit rotem Spitzdach und einem Neubau mit Flachdach, die miteinander verbunden sind. Neben dem Lehrbetrieb werden hier an drei Seziertischen jeden Nachmittag von jeweils zwei Ärzten bis zu zehn Leichen obduziert.
Anja hatte einen Parkplatz in der Nähe gefunden. Sie betrat das Institut mit einem mulmigen Gefühl im Magen und einem dicken Kloß im Hals durch den Haupteingang des Neubaus. Sie war schon ein paar Mal hier gewesen, allerdings nie freiwillig.