Nadine landete auf dem Kies, der sich schmerzhaft in ihre rechte Wange bohrte. Aber sie hatte keine Zeit, darüber zu klagen. Außerdem war der Schmerz in ihrem Kopf, den der von der Leine gelassene Mr. Tumor erzeugte, viel heftiger.
Sie rappelte sich auf und kam ächzend und stöhnend auf die Beine, indem sie sich an der offenen Tür festklammerte.
Nadine wandte den Kopf und sah in den Wagen. Johannes beobachtete sie. Allerdings machte er keine Anstalten, ihr zu folgen. Er sah sie voller Mitleid an, als bedauerte er es zutiefst, sie in diesem erbärmlichen Zustand sehen zu müssen.
Sie hasste ihn dafür. Das ungewohnte Gefühl war so stark, dass sie erschauderte. Wie hatte sie ihn nur für gefühlvoll und freundlich halten können? Und wie hatte sie zu ihm ins Auto steigen und es zulassen können, dass er ihr eine Droge verabreichte, obwohl sie ihn kaum kannte? Er war nicht nett und einfühlsam. Trotz all seines scheinheiligen Geredes von Gott und Geschenken des Himmels. Denn in Wahrheit wollte er sie kaltblütig umbringen, auch wenn er diesen Umstand mit beschönigenden Worten zu verschleiern versuchte.
Er ist ein Monster!
Ihr wurde bewusst, dass sie kostbare Zeit verschwendete. Zeit, die sie nicht hatte, weil die Uhr tickte, während das Sedativum sich in ihrem Körper ausbreitete und allmählich seine volle Wirkung entfaltete.
Nadine wandte sich um. Sie löste ihre Hand von der Tür und rannte los. Das war zumindest ihr Plan gewesen. Doch aus dem Rennen wurde schon mal nichts. Sie schaffte es gerade einmal, in langsamem Schritttempo einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei schwankte sie hin und her wie ein Seemann auf dem Deck eines Windjammers bei Windstärke 10. Erneut setzte heftiges Schwindelgefühl ein und sorgte dafür, dass die Umgebung sich um sie drehte und der Boden unter ihren Füßen Wellen warf. Beinahe wäre sie gestrauchelt und hingefallen. Doch trotz all dieser Widrigkeiten schaffte sie es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben.
Nach ein paar Metern tauchte die Bretterwand der windschiefen Scheune vor ihr auf. Sie presste beide Hände dagegen und blieb schnaufend stehen, um sich zu orientieren. Sie dachte kurz darüber nach, in der Scheune Zuflucht zu suchen und sich dort zu verstecken. Aber ihr wurde klar, dass sie dann in der Falle säße, weil es vermutlich keinen anderen Ausgang gab. Besser, sie umrundete das Gebäude und lief in seinem Sichtschutz auf das dunkle Feld dahinter. Sobald sie in der Dunkelheit untergetaucht wäre, könnte Johannes sie nicht mehr so leicht finden. Selbst wenn sie das Bewusstsein verlor und hinfiel. Denn da es nicht kalt war, bestand zumindest nicht die Gefahr, dass sie beim Schlafen im Freien erfror. Und sobald die Wirkung des Sedativums abebbte und sie wieder zu sich kam, konnte sie zur Straße laufen, wo sie hoffentlich jemanden fand, der sie mitnahm.
Es war kein guter Plan, das wusste sie. Und es gab genügend Details, die schiefgehen konnten. Aber unter den gegenwärtigen Umständen und angesichts ihres stetig schlechter werdenden Zustands war es das Beste, was sie sich in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, ausdenken konnte.
Als sie ihre Flucht fortsetzte und sich an der Scheunenwand entlang ihren Weg ertastete, hörte sie hinter sich die Fahrertür aufgehen.
Er kommt!
Der Gedanke versetzte sie in Panik. Sie versuchte unwillkürlich, schneller zu laufen, ohne dabei über die eigenen Füße zu stolpern. Die wurden zunehmend unzuverlässiger. Sie taten nicht immer das, was sie wollte, und behinderten sich auch noch gegenseitig.
Johannes hingegen schien keine Eile zu haben. Sie war höchstens zehn Meter von ihm entfernt. Er hätte nur einen kurzen Sprint hinlegen müssen und sie im Nullkommanichts eingeholt. Doch er war sich seiner Sache anscheinend todsicher und ließ sich Zeit.
Das machte sie wütend. Dass er überhaupt nicht damit rechnete, dass sie entkommen könnte. Dass er seelenruhig abwartete, bis die volle Wirkung der Droge einsetzte, um sie dann nur noch einsammeln zu müssen. Denn das bedeutete im Endeffekt, dass ihr Fluchtversuch von Anfang an aussichtslos gewesen war. Genauso gut hätte sie im Auto sitzen bleiben und abwarten können, bis die Lichter ausgingen.
Doch sie gab trotzdem nicht auf!
Beinahe hätte sie darüber gelacht. Hätte sie gewusst, was für eine Kämpferin in ihr steckte, hätte die Krebsdiagnose sie nicht so schockiert und verzweifeln lassen. Vermutlich wäre dann alles ganz anders gekommen, und sie wäre jetzt nicht in dieser beschissenen Lage.
»Du kannst mir nicht entkommen.«
Sie erschrak, als sie seine Stimme hörte. Allerdings klang es nicht so, als wäre er nähergekommen, sondern als stünde er noch immer neben der offenen Fahrertür des Wagens. Außerdem hatte sie keine Schritte auf dem Kies gehört.
Sie reagierte nicht auf seine Worte. Wie auch, wenn sie kaum in der Lage war, verständlich zu sprechen?
Endlich erreichte sie die Ecke der Scheune und verschwand sogleich dahinter. Jetzt konnte er sie wenigstens nicht mehr sehen. Außerdem war es hier stockfinster, weil die Innenbeleuchtung des Autos nicht bis hierher reichte. Vielleicht hatte sie doch noch eine Chance. Nämlich dann, wenn es ihr gelang, in der Dunkelheit unterzutauchen und weit genug zu laufen, sodass er sie nicht fand.
»Die Wirkung des Sedativums wird von Sekunde zu Sekunde stärker. Und je mehr du dich anstrengst und gegen dein unvermeidliches Schicksal ankämpfst, desto schneller wird der Wirkstoff in deinem Körper verteilt.«
Klugscheißer!
Plötzlich hörte sie das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies. Er folgte ihr in gemächlichem Tempo.
Es war so dunkel, dass sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Die Scheunenwand neben ihr war alles, was ihr zur Orientierung diente. Ansonsten war es, als spielte sie Blindekuh.
Nadine ging taumelnd weiter. Eine Hand streifte über die Holzwand links neben ihr. Die andere hatte sie vor sich ausgestreckt, falls unerwartet ein Hindernis auftauchte.
»Warum gibst du nicht einfach auf und fügst dich in dein unabänderliches Schicksal? Damit würdest du es nicht nur mir, sondern auch dir selbst wesentlich leichter machen. Sieh es einfach so wie ich. Als Dienst an der Menschheit, den Gott von dir verlangt.«
Johannes’ Stimme klang in der Dunkelheit bereits so nahe, als stünde er direkt hinter ihr. Dabei hatte er noch nicht einmal die Ecke der Scheune erreicht.
Plötzlich tauchte tatsächlich ein Hindernis vor ihr auf. Doch es war so niedrig, dass sie es nicht mit der vorgestreckten Hand ertastete, sondern stattdessen mit dem Schienbein dagegen prallte. Sie schrie vor Schmerz, fiel nach vorn und landete im hohen Gras, das neben der Scheune wuchs. Sie wusste nicht, was sie zu Fall gebracht hatte. Aber was auch immer es gewesen war, es hatte ihr Hosenbein aufgerissen und ihr einen blutigen Kratzer am Knie beschert. Sie spürte warmes Blut unter ihren Fingern, als sie danach tastete.
Nadine wollte sofort wieder aufstehen und weitergehen. Doch dazu fehlte ihr die Kraft. Außerdem war das Schwindelgefühl inzwischen so heftig, dass sie kaum noch sagen konnte, wo links und rechts oder oben und unten war. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als auf dem grasbedeckten Boden liegen zu bleiben und nach Luft zu schnappen. Währenddessen vereinten sich die Schmerzen in ihrem Kopf und ihrem Bein zu einer einzigen qualvollen Agonie.
Das Knirschen des Kieses war verstummt. Stattdessen hörte sie jetzt Gras rascheln, als Johannes sich ihr näherte.
»Ich sagte doch, dass du nicht entkommen kannst.« Trotz seiner mörderischen Absichten war seine Stimme sanft. Seine Worte waren auch nicht bösartig gemeint, sondern klangen allenfalls tadelnd. Er hörte sich an wie ein Vater, der seine geliebte Tochter maßregelt, weil sie nicht auf ihn gehört hat und deshalb auf die Nase gefallen ist.
Nadine war zu kraftlos, um ihm zu antworten. Ihr Bewusstsein wurde in einem Strudel herumgewirbelt, als wäre in ihrem Verstand ein Stöpsel entfernt worden. Ihr inneres Ich drohte jeden Moment in den finsteren,