Nicht durch den Tumor in ihrem Kopf, der ihr bislang wie das größte Unglück erschienen war, das ihr jemals widerfahren war. Sondern ausgerechnet durch den Mann, der ihr eine Zeitlang neue Zuversicht und neuen Lebensmut geschenkt hatte.
Pervers!
»Wehr dich nicht länger dagegen!« Johannes war neben ihr in die Hocke gegangen. Sie spürte seine kühle Hand auf ihrer erhitzten Stirn. Und obwohl er zu ihrem Mörder werden würde, tröstete sie die Berührung durch ein anderes mitfühlendes menschliches Wesen.
Ihre Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings. Es kam ihr allerdings eher so vor, als wären sie tonnenschwer. Deshalb gelang es ihr auch nicht länger, die Augen offenzuhalten.
»Schlaf jetzt!«
Seine sanfte Stimme begleitete sie, als ihr Bewusstsein in den Abgrund sauste und wie eine Kerzenflamme im Wind erlosch.
Nadine hatte damals mit dem Leben abgeschlossen und gedacht, sie würde nicht mehr erwachen. Als sie entgegen ihren Erwartungen dennoch wieder zu sich kam, lag sie in einem Gefängnis, das sie an eine übergroße Holzkiste erinnerte, und war mit Eisenketten an die Wand gefesselt.
Was immer Johannes mit ihr vorhatte, es sollte allem Anschein nach kein rascher Tod werden. Aber was er letztendlich genau plante und wie das Opfer aussah, das sie bringen sollte, hatte er ihr bislang nicht verraten. Stattdessen hüllte er sich hartnäckig in Schweigen, wenn er in ihr Verlies kam, um den Eimer auszuleeren oder ihr regelmäßig Wasser und seltener Zwieback zu bringen. Er erwiderte ihre anfangs fragenden und anklagenden, später resignierenden und hoffnungslosen Blicke mit Augen, die weiterhin sanft und mitfühlend waren. Doch er sprach kaum noch mit ihr. Es erschien ihr beinahe so, als wollte er ihre Beziehung von nun an so unpersönlich wie möglich gestalten, um sie am Ende umso leichter töten zu können.
II
Ihr heutiges Erwachen glich einem Sprung in eiskaltes Wasser, denn es kam jäh und war schmerzhaft.
Es war kein sanftes Hinübergleiten vom Schlaf ins Bewusstsein, wie sie es in ihrem früheren Leben so oft erlebt hatte. Stattdessen handelte es sich, wie immer in letzter Zeit, um eine geradezu schockartige Rückkehr in die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit voller Schmerz und Qual, den infernalischen Zwillingen, die neuerdings ihre ständigen Begleiter waren. Ihnen konnte sie nur während des Schlafens für kurze Zeit entrinnen.
Nadine hob ächzend den Kopf. Sie sah sich blinzelnd und mit sparsamen Bewegungen um. Mittlerweile kostete sogar die kleinste Regung enorme Kraft, die sie kaum noch besaß, und intensivierte zudem die ständigen Schmerzen. Sie sah allerdings auf den ersten Blick, dass sich an ihrer Situation nichts geändert hatte.
Wie auch? Sie war längst davon überzeugt, dass nur noch ein Wunder biblischen Ausmaßes sie retten konnte.
Sie war noch immer in dem winzigen fensterlosen Verschlag gefangen, der einer übergroßen Kiste glich. Sämtliche Wände und der Zugang bestanden aus unbehandelten Holzbrettern. Die einzigen beiden Einrichtungsgegenstände waren eine schmutzige Matratze, die nach Nadines Schweiß und Körperausscheidungen stank, und ein Plastikeimer in der Ecke, in den sie ihre Notdurft verrichten konnte. An den durchdringenden Gestank nach Exkrementen hatte sie sich längst gewöhnt. Sie nahm ihn schon gar nicht mehr bewusst wahr. Allerdings fand sie inzwischen kaum noch die Kraft, die kurze Strecke bis zum Eimer zu überwinden. Dabei stand er nur einen halben Meter von ihrer Schlafstatt entfernt. Mehr Spielraum ließen ihr die Ketten ohnehin nicht, die an metallenen Schellen um ihre Hand- und Fußgelenke befestigt waren. Anfangs waren die Schellen zu eng gewesen und hatten ihre Haut wund gescheuert; doch seit Beginn ihrer Gefangenschaft hatte sie extrem viel Gewicht verloren. Dennoch konnte sie die Fesseln nicht abstreifen. Außerdem hätte es ihr ohnehin nichts genutzt. Der Mann, der sie gefangen hielt, vergaß nie, die Tür zu verriegeln, nachdem er gekommen war, um den Eimer auszuleeren oder ihr Wasser oder ein wenig Zwieback zu bringen. Allerdings musste Johannes den Eimer inzwischen nicht mehr allzu oft leeren, da sie nur noch selten Stuhlgang hatte.
Johannes.
Der Name ihres Peinigers irrlichterte durch ihren Verstand, löste jedoch keine Reaktion aus. Selbst dafür fehlte ihr inzwischen die Kraft. Außerdem hatte sie längst resigniert und aufgegeben. Ihr Lebenswille war buchstäblich erloschen.
Sie wusste, dass er sie töten würde. Das hatte er ihr bereits an jenem ersten Abend im Auto gesagt. Bislang hatte er ihr aber nicht verraten, wie er sie umbringen würde. Eine Zeitlang hatte sie gedacht, er wollte sie verhungern lassen, da er ihr am Anfang nur Wasser gebracht hatte. Doch nach einer Weile hatte es gelegentlich auch ein bisschen Zwieback gegeben. Nie genug, um satt zu werden und das knurrende Loch, in das sich ihr Magen schon nach kurzer Zeit verwandelt hatte, zu stopfen. Aber dennoch ausreichend, damit sie nicht verhungert war. Allerdings war sie im Laufe ihrer Gefangenschaft immer mehr abgemagert. Mittlerweile glich sie eher einem mit dünner Haut überzogenen Skelett als einem lebenden Menschen. Sie hatte keinen Spiegel, um sich darin zu betrachten; und insgeheim war sie froh darüber. Doch was sie von ihrem nackten, ausgemergelten Körper sehen konnte, genügte ihr, um davon auf den Rest zu schließen.
Hinzu kamen die Schmerzen. Anfangs waren es nur die peinigenden Kopfschmerzen gewesen, die sie bereits vor ihrer Bekanntschaft mit Johannes geplagt hatten. Ihr Arzt hatte ihr ein Schmerzmittel verschrieben, mit dem sie die Beschwerden einigermaßen in den Griff bekommen hatte. Doch nachdem sie an diesem Ort gelandet war, hatte Johannes ihr nicht erlaubt, etwas gegen die Schmerzen einzunehmen. Sie kämen von Gott, hatte er behauptet, und deshalb müsste Nadine sie ertragen. Außerdem wären sie ein Teil ihres Leidensweges und würden ihr Opfer nur umso wertvoller machen.
»Welches Opfer?«, hatte Nadine ihn gefragt. Obwohl sie geahnt hatte, dass er damit ihren Tod meinte. Doch er hatte nicht geantwortet, sondern nur milde gelächelt und ohne ein weiteres Wort ihr Verlies verlassen.
Sie wusste nicht viel über Gott, da sie in einem atheistischen Haushalt aufgewachsen war. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Gott, der die Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hatte, seine Schöpfung mit derartig intensiven Schmerzen bestrafen würde. Und wofür wurde sie überhaupt bestraft? Sie hatte doch nichts getan! Und wieso sollte sie sich opfern?
Doch auf all diese Fragen war Johannes ihr bislang eine Antwort schuldig geblieben. Nur am ersten Abend im Auto war er gesprächig gewesen. Danach hatte er sich, sofern er ihr überhaupt geantwortet hatte, auf knappe, einsilbige Aussagen beschränkt.
An die stechenden Kopfschmerzen hatte sie sich allmählich gewöhnt. Und das, obwohl sie von Tag zu Tag intensiver wurden. Kaum zu glauben, woran sich der Mensch gewöhnen konnte, wenn er keine andere Wahl hatte. Aber es blieb nicht bei den Schmerzen im Kopf. Mittlerweile tat ihr ganzer Körper weh und fühlte sich überall wund an. Nach dem Aufwachen hatte sie meistens das Gefühl, sie hätte auf dem Rost eines Grills über glühenden Kohlen geschlafen und wäre dabei auf kleiner Flamme langsam durchgebraten worden. Sämtliche Muskeln schmerzten, auch wenn sie in letzter Zeit kaum noch benutzt wurden. Und wenn sie sich doch einmal bewegte, um eine andere, weniger schmerzhafte Liegeposition zu finden, wurde der stetige Schmerz zu einem intensiven Stechen, als hätte sie einen Muskelkrampf. Deshalb rührte sie sich inzwischen kaum noch. Außerdem hatte sie von Tag zu Tag immer weniger Kraft dafür übrig.
Wenigstens hatte sie keine Hungergefühle mehr. Darunter hatte sie am Anfang am meisten gelitten. Zuerst hatte ihr Magen nur geknurrt. Dann war die Leere in ihm konstant größer geworden, bis er sich verkrampft und sie sich unter heftigen Schmerzen auf der Matratze gekrümmt hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, ihr Magen wäre ein schwarzes Loch, das sich immer weiter ausdehnte und dabei allmählich den Rest ihres Körpers in sich hineinsaugte und verschlang. Aber irgendwann waren diese Schmerzen vergangen. Und seitdem hatte sie auch keinen Hunger mehr.
Obwohl sie gerade erst erwacht war, war Nadine dennoch todmüde. Wie stets war die Schlafperiode zu kurz und wenig erholsam gewesen. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie geträumt hatte. Sie hatte ohnehin das Gefühl, schon lange nicht mehr geträumt zu haben. Wovon sollte sie auch träumen? Von einem besseren Leben? Von einem Ende ihrer Gefangenschaft und ihrer Qualen?