Der Geruch, der sie im Kellergeschoss empfing, war eine Mischung aus Formaldehyd und süßlich-bitterer Verwesung. Er verursachte bei ihr augenblicklich Übelkeit. Und je näher sie der Quelle der Gerüche kam, desto intensiver wurde sie. Ihre Schritte hallten von den grauen Wänden wider, als sie im kalten Licht der Neonröhren dem Gang folgte. Sie begegnete auf ihrem Weg niemanden, als wäre das Institut ausgestorben. Allerdings hörte sie Geräusche hinter den geschlossenen Türen, die sie passierte. Da es hier unten kühl war, fröstelte sie trotz ihrer Blousonjacke; aber vermutlich nicht nur deshalb.
Die Tür des Sezierraums stand offen. Anja trat zögerlich ein, ohne anzuklopfen. Sie war erleichtert, dass die siamesischen Zwillinge Krieger und Englmair schon da waren und auf sie warteten. Die Aussicht, an diesem Ort mit einer Leiche als einziger Gesellschaft auf das Eintreffen der Kollegen warten zu müssen, hatte ihr auf dem ganzen Weg hierher Unbehagen bereitet.
Die beiden Männer sahen auf, als sie den Raum betrat. Englmair lehnte an der gekachelten Wand. Er hielt ein Handy in der Hand, als hätte er eine SMS geschrieben oder seine Mails gecheckt. Krieger hingegen hatte den Seziertisch mit der Leiche umrundet, als wäre er ein ruheloser Tiger und der Leichnam darauf seine Beute, die er bewachen musste.
»Da ist unsere frisch geduschte Joggerin ja endlich«, sagte er in seiner anzüglichen Art und musterte sie aufmerksam von oben bis unten. Anja fühlte sich sofort unbehaglich. »Schöne Schuhe. Sind die neu?«
Anja schüttelte den Kopf. Sie war in der Nähe der Tür stehen geblieben und vermied es bislang krampfhaft, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen. Diese war mit einem weißen Tuch abgedeckt, unter dem sich lediglich ihre Konturen abzeichneten. »Wieso willst du das wissen, Krieger? Hast du vor, dir die Gleichen zu kaufen?«
Krieger verzog missmutig das Gesicht. Er verspottete andere für sein Leben gern, war aber ungern Ziel des Spotts anderer. Englmair lachte amüsiert, während er sein Handy wegsteckte.
»Morgen, Englmair«, begrüßte Anja ihn.
»Morgen, Kollegin.«
Die beiden Beamten der Mordkommission arbeiteten schon seit mehreren Jahren zusammen und waren ein eingespieltes Team. Obwohl sie charakterlich nicht unterschiedlicher hätten sein können, waren sie sich äußerlich im Laufe der Zeit wie Hund und Herrchen immer ähnlicher geworden. Wobei Anja nicht wusste, wer in ihrem Fall der Hund und wer das Herrchen war.
Beide hatten eine ähnliche Statur und waren leicht übergewichtig. Bei Anton Krieger war das von Anfang an der Fall gewesen. Peter Englmair hatte hingegen anfangs mindestens zehn Kilo weniger gewogen und erst ganz allmählich Gewicht zugelegt. Krieger war mit seinen eins siebzig allerdings zehn Zentimeter kleiner als sein Kollege. Gemeinsam hatten sie auch die Frisur, denn sie rasierten sich ihre Schädel. Krieger tat es aus Notwendigkeit, da er allmählich immer kahler geworden war, bis von seinem haselnussbraunen Haupthaar nur noch ein erbärmlich dünner Kranz übrig geblieben war. Warum Englmair es tat, der noch immer volles dunkelblondes Haar besaß, wusste hingegen niemand.
»Ist das die Tote?«, fragte sie, ohne auf den zugedeckten Leichnam zu deuten. Das war auch nicht nötig, schließlich war es die einzige Leiche im Raum.
»Nein.« Krieger grinste ölig. »Das ist der Gerichtsmediziner, den Peter und ich vor fünf Minuten um die Ecke gebracht haben.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich ist sie das! Oder siehst du hier noch eine andere Leiche herumliegen.«
Anja ließ sich von ihm weder irritieren noch provozieren. Je weniger sie auf seine Boshaftigkeiten einging, desto weniger Spaß hatte er daran. Und desto eher würde er auch damit aufhören. Krieger war eindeutig der aggressivere und angriffslustigere Teil des Mordermittler-Duos. Englmair war hingegen eher der väterliche und verständnisvolle Kumpeltyp. Die beiden ergänzten sich hervorragend und bildeten ein gutes Team. Sie mussten nicht einmal schauspielern, um mit einem Tatverdächtigen Guter-Polizist-böser-Polizist zu spielen.
»Wo habt ihr sie gefunden?«
»Wir haben sie überhaupt nicht gefunden«, entgegnete Krieger. »Das hat ein netter, älterer Herr für uns erledigt. Er ging mit seinem Zamperl Gassi und erlitt den Schock seines Lebens. Ein Wunder, dass er dabei nicht aus seinen Haferlschuhen gekippt ist und einen Herzkasperl erlitten hat.«
»Bevor wir dir Näheres über den Auffindeort und die Todesumstände erzählen, sollten wir zunächst klären, ob es sich tatsächlich um deine Vermisste handelt.« Englmair stieß sich von der Wand ab und trat an den Edelstahltisch heran.
»Wie habt ihr sie überhaupt identifiziert?«
»Vor allem anhand einer Tätowierung am linken Fußknöchel und eines Muttermals in der rechten Achselhöhle.« Englmair nahm mehrere zusammengefaltete Blätter aus der Innentasche seiner Lederjacke. Er entfaltete sie und hielt sie Anja entgegen. »Als wir die beiden Merkmale zusammen mit ihrer Körpergröße sowie der Haar- und Augenfarbe in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen eingaben, erzielten wir sofort einen Treffer. Auf diese Weise bekamen wir den Namen deiner Vermissten.«
Die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen, kurz Vermi/Utot, wird beim Bundeskriminalamt geführt. Sie soll die Ermittlungsbehörden dabei unterstützen, anhand detaillierter Personenbeschreibungen und anderer Identifizierungshilfen Zusammenhänge zwischen vermissten Personen und unbekannten Leichen oder unbekannten hilflosen Personen herzustellen. Die Datei wird täglich aktualisiert, indem neue Vermisstenfälle aufgenommen, Veränderungen übernommen und erledigte Vermisstenfälle gelöscht werden. Dadurch ist sie immer auf dem aktuellsten Stand. Sie bietet die Möglichkeit, die komplette Personenbeschreibung einer vermissten Person aufzunehmen oder zu recherchieren. Die Datei enthält momentan annähernd 11.500 Fälle, darunter etwa 9.600 über vermisste Personen. Manche von ihnen klären sich innerhalb weniger Tage wieder auf. Andere Vermisste bleiben für immer verschwunden. Täglich werden etwa 250 bis 300 Fälle aufgenommen oder entfernt.
Trotz ihres Widerwillens wegen der Leiche auf dem Seziertisch musste Anja näherkommen, um die Papiere entgegenzunehmen. Wenigstens zitterte ihre Hand nicht allzu stark, als sie danach griff.
Es handelte sich um Computerausdrucke der Vermisstenanzeige. Sie enthielt unter anderem die Personalien der Vermissten. Daneben eine detaillierte und umfassende Personenbeschreibung einschließlich aller individuellen körperlichen Besonderheiten. Außerdem die Beziehung der anzeigenden Person zur Vermissten sowie die konkreten Umstände und möglichen Ursachen und Beweggründe des Verschwindens.
Anja blätterte zum dreiseitigen Folgeblatt der Vermisstenanzeige mit der ausführlichen Personenbeschreibung. Der Bereich »Tätowierungen« auf der zweiten Seite, in dem die Lage und das Motiv der Tätowierung vermerkt waren, die Englmair erwähnt hatte, war mit gelbem Textmarker hervorgehoben worden. Auf der nächsten Seite befand sich ein Körperschema, das Front- und Rückenansicht zeigte. Dort waren die exakten Positionen der Tätowierung und des Muttermals eingezeichnet.
Anja ließ die Blätter sinken. Sie sah zuerst Englmair und dann Krieger mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wenn die Tätowierung, das Muttermal, die Haar- und Augenfarbe sowie die Größe mit der Vermisstenmeldung übereinstimmen, habt ihr sie ja praktisch schon eindeutig identifiziert. Wozu braucht ihr mich dann eigentlich noch?«
»Es ist dein Vermisstenfall«, erinnerte Englmair sie. »Du hast dich intensiv mit der Vermissten beschäftigt, Fotos von ihr gesehen, ihre Wohnung durchsucht und mit ihren Angehörigen und Freunden gesprochen. Du kennst sie von uns dreien am besten. Wenn sie außer ihrer Mutter jemand identifizieren kann, dann du.«
Er hatte recht. Wurde bei einer Anfrage in der Datei Vermi/Utot eine Übereinstimmung zwischen einer unbekannten Leiche und einer vermissten Person festgestellt, wurden umgehend die beteiligten Dienststellen informiert. Sie mussten dann einen Abgleich der Merkmale der unbekannten Leiche mit der Personenbeschreibung der vermissten Person durchführen. Deshalb riefen die Kollegen von der Mordkommission oder die Todesermittler in einem derartigen Fall das K14 zu Hilfe. Und sie war nun einmal die zuständige Ermittlerin der Vermisstenstelle, auch wenn sie sich den