DER ABGRUND JENSEITS DES TODES. Eberhard Weidner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eberhard Weidner
Издательство: Bookwire
Серия: Anja Spangenberg
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214309
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Krieger, verstummte aber sofort wieder, als wüsste er nicht weiter. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sah zu Boden.

      »Was?« Anja sah Englmair alarmiert an.

      Der schürzte die Lippen, bevor er sagte: »Am besten, du siehst es dir selbst an.« Anschließend griff er nach dem Tuch, das die Leiche bislang verhüllt hatte. Er zog es so ruckartig zur Seite, als wäre er ein Bühnenmagier, der dem Publikum beweisen wollte, dass er die regungslose Person unter dem Tuch durch Zauberei hatte verschwinden lassen.

      VI

      Tu’s bitte nicht!, hätte Anja beinahe gerufen und nach der Hand des Kollegen gegriffen, um ihn daran zu hindern. Sie unterließ es. Stattdessen schloss sie die Augen, um sich innerlich gegen den Anblick zu wappnen, bevor sie sich ihm aussetzte.

      Als Raphael vor der Fahrt hierher im Treppenhaus erwähnt hatte, dass sie keine Leichen mochte, hatte er recht gehabt. Es war allerdings nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit verabscheute sie menschliche Leichname und konnte ihren Anblick kaum ertragen. Dennoch war sie in ihrem Job gelegentlich gezwungen, den körperlichen Überresten vermisster Personen gegenüberzutreten. All denjenigen, die durch eigene oder fremde Hand oder einfach nur durch einen dummen Unglücksfall ums Leben gekommen und deshalb eine Zeitlang verschwunden waren, bis man irgendwann ihre Leichen fand. Um dem Anblick toter Menschen ganz aus dem Weg zu gehen, hätte sie sich schon in eine andere Abteilung versetzen lassen müssen. Irgendwohin, wo sie nicht das Geringste mit Leichen zu tun gehabt hätte. Oder sie hätte ihren Job bei der Polizei quittieren müssen. Aber beides wollte sie nicht, denn sie liebte ihre Arbeit in der Vermisstenstelle. Also musste sie hin und wieder in den sauren Apfel beißen und ihren extremen Widerwillen überwinden, der beinahe die Ausmaße einer Phobie hatte. Sie schwor sich ständig, es wäre das letzte Mal, dass sie sich so etwas antat. Doch hinterher war sie stets so erleichtert, es wieder einmal überstanden zu haben, dass sie ihren Schwur prompt vergaß. Bis sie, so wie heute, erneut vor einem Seziertisch stand und gegen ihre größte Angst ankämpfen musste.

      Anja war klar, dass sie die Augen nicht ewig davor verschließen konnte. Außerdem wollte sie nicht, dass die Kollegen mitbekamen, was mit ihr los war. Bislang hatte sie ihr Handicap erfolgreich vor allen verheimlichen können.

      Unmittelbar bevor sie die Augen öffnete, hatte sie das Bild eines aufgedunsenen, bläulich-violett verfärbten Gesichts mit heraushängender blauer Zunge im Kopf. Doch sie verdrängte es sofort wieder in die Tiefen ihrer Erinnerung, wo es sich vor Jahren eingebrannt hatte. Gleichzeitig stählte sie sich innerlich gegen den Anblick.

      Normalerweise half es ihr, sich zunächst auf Einzelheiten zu konzentrieren und die Leiche nicht in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen. Erst hinterher, sobald sie den Blick abgewandt und den Leichnam nicht mehr vor Augen hatte, setzte sie die Details dann wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammen. Auf diese Weise war der Anblick für sie leichter zu ertragen.

      Diese bewährte Vorgehensweise funktionierte hier und heute allerdings nicht. Denn auf das, was sie vor sich sah, war sie nicht im Mindesten vorbereitet. Dabei hätte die Reaktion der beiden Mordermittler sie vorwarnen müssen. In Filmen hatte sie zwar schon Schlimmeres gesehen, doch das hier war die Realität, das echte Leben. Anja schnappte daher erschrocken nach Luft, obwohl sie das bei den vorherrschenden Gerüchen an diesem Ort besser gelassen hätte. Zugleich trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück.

      Die Leiche auf dem stählernen Seziertisch war auf den ersten Blick kaum noch als menschliches Wesen zu identifizieren. Sie war bis aufs Skelett abgemagert und erinnerte unwillkürlich an eine Mumie. Die Haut wirkte extrem dünn, als würde sie jeden Moment reißen. Sie spannte sich über den Knochen, von denen sich jeder einzelne so deutlich abzeichnete, als handelte es sich um ein Anschauungsmodell für den Anatomieunterricht. Die einzige Ausnahme hiervon bildeten zahlreiche dunkle Beulen, hauptsächlich unter den Armen und in der Leistengegend.

      »Was … was ist mit ihr geschehen?«

      »Das wissen wir noch nicht.« Krieger starrte mit einem Ausdruck des Abscheus auf die Tote. »Sie wird erst heute Nachmittag obduziert.«

      »Der Gerichtsmediziner, der sie am Tatort untersucht hat, meinte, dass sie längere Zeit gehungert haben muss«, erläuterte Englmair. »Vielleicht ist sie am Ende sogar verhungert. Anzeichen für einen gewaltsamen Tod oder Spuren, die auf heftige Gegenwehr oder einen Kampf hindeuten, gibt es bislang nicht. Sie hatte lediglich eine schlecht verheilte Schramme am Knie und wunde, teilweise entzündete Hand- und Fußgelenke. Außerdem zahlreiche Wundmale am Rücken. All das deutet darauf hin, dass sie lange Zeit gefesselt gewesen sein und auf dem Rücken gelegen haben muss.«

      »Wurde sie vergewaltigt oder sexuell missbraucht?«

      »Nach der vorläufigen Einschätzung des Pathologen anscheinend nicht.«

      »Und wie lange ist sie schon tot?«

      »Laut Aussage des Rechtsmediziners weniger als zwölf Stunden«, antwortete Englmair.

      Anja schüttelte den Kopf. Nicht weil sie die Zeitangabe anzweifelte, sondern weil die Frau auf dem Seziertisch aussah, als wäre sie schon viel länger tot.

      »Und diese …« Sie verstummte und suchte nach einem zutreffenden Begriff.

      »Beulen?«, half ihr Englmair aus.

      »Ja. Was haben diese Beulen zu bedeuten. Es sieht aus wie die …«

      »… Beulenpest«, nahm ihr Krieger das Wort aus dem Mund und nickte. »Das war auch unser erster Gedanke.«

      Anja wusste nicht viel über die Pest. Früher, vor allem im Mittelalter, hatte es Pestepidemien und -pandemien gegeben, denen teilweise Millionen von Menschen zum Opfer gefallen waren. Doch obwohl die verheerende Krankheit schon vor einiger Zeit aus Europa verschwunden war, war sie längst nicht ausgerottet. In anderen Teilen der Welt gab es noch immer Krankheitsfälle. War der Schwarze Tod, wie die Seuche auch genannt wurde, etwa nach Europa zurückgekehrt? Und war diese bedauernswerte Frau an der Pest erkrankt? War sie deshalb so abgemagert und schließlich qualvoll daran zugrunde gegangen? Aber wieso war sie dann längere Zeit gefesselt gewesen?

      »Keine Bange, es handelt sich nicht um einen neuen Ausbruch der Beulenpest«, sagte Englmair, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Das erklärte auch, warum er und sein Kollege keine Bedenken hatten, sich dem Leichnam zu nähern. Und wieso die Tote hier lag und nicht in einer Quarantänestation. »Der Gerichtsmediziner gab sofort Entwarnung, nachdem er eine der Beulen aufgeschnitten hatte. Bei der Flüssigkeit handelt es sich nur um schwarze Tinte, die unter die obersten Hautschichten injiziert wurde. Nach Ansicht des Pathologen geschah das vermutlich post mortem.«

      Anja erschauderte. Obwohl sie alles andere als glücklich darüber war, musste sie unwillkürlich noch einmal die Leiche und die nachgemachten Pestbeulen ansehen. »Aber wieso sollte jemand so etwas Schreckliches tun?«

      »Möglicherweise wollte der Täter den Eindruck erwecken, sie wäre an der Pest gestorben.« Englmair zuckte mit den Schultern. »Vielleicht will er damit Panik verbreiten.«

      »Wenn ihr mich fragt, ist zu etwas nur ein komplett durchgeknallter Irrer fähig«, konstatierte Krieger ungefragt, aber voller Überzeugung, als hätte er einen Universitätsabschluss und einen Doktortitel in Psychologie. Zur Verdeutlichung seiner Worte ließ er den Zeigefinger neben seiner Schläfe kreisen.

      Anja ignorierte ihn noch immer; sie sprach ausschließlich mit Englmair. »Dann geht ihr trotz fehlender Anzeichen für ein Gewaltverbrechen dennoch davon aus, dass sie ermordet wurde?«

      »Selbst hat sie sich diese Dinger jedenfalls nicht zugefügt«, sagte Krieger und deutete auf die Beulen im Schambereich, die ihn besonders anzuekeln schienen. Ausnahmsweise war ihm wohl nicht danach, die üblichen Anzüglichkeiten von sich zu geben, obwohl eine nackte Frau vor ihm lag. Doch angesichts dessen, was ihr widerfahren war, hatte es ihm anscheinend die Lust auf seine üblichen Sprüche genommen. »Zumindest nicht, wenn sie ihr nach ihrem Tod beigebracht wurden.«

      »Nach der Obduktion und den chemisch-toxikologischen Untersuchungen wissen wir hoffentlich mehr«, sagte Englmair. Mithilfe dieser Tests konnten Gifte, Drogen, Medikamente