Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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seines kleinen Bruders stehen. Die Tür war einen spaltbreit offen. Das Licht des Vollmondes schien durch das dreckige Fenster des Zimmers und machte einen kleinen Teil des Raumes sichtbar. Das vorher noch wild auf dem Boden verteilte Spielzeug war verschwunden. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür noch eine Hand breit und wünschte sich schon kurz darauf, es nicht getan zu haben. Das Bett war das Erste, das ihm sofort auffiel. Auf ihm befanden sich eine frisch bezogene Decke und ein neues Kopfkissen. Vor dem Fuß des Bettes, standen zwei große Spielzeugkisten, die bis obenhin gefüllt waren. Die Bücher, die aufgeschlagen auf dem Boden verstreut waren, befanden sich nun fein säuberlich aufgestellt in den Bücherregalen. Nichts war mehr an dem Platz, wo es sich vor wenigen Stunden noch befunden hatte. Stattdessen war das ganze Zimmer in beste Ordnung gebracht worden. Ängstlich starrte er in den Raum, der früher einmal das Reich seines damals elfjährigen Bruders gewesen war. In dem Moment, als er das Zimmer noch weiter betreten wollte, hörte er sein Handy aus seinem Zimmer klingeln. Er zögerte einen Augenblick. Vermutlich hatte seine Mutter bereits vor einigen Tagen aufgeräumt, und ihm war es einfach nicht aufgefallen, sagte er sich in dem Wissen, dass das nur eine billige Ausrede sich selbst gegenüber war. Doch er schaffte es, sein Wissen in den Hintergrund rücken zu lassen und begnügte sich mit der eigenen Lüge. Die Zweite von 25 Sünden innerhalb der letzten acht Stunden, dachte er und musste Trae unbewusst Recht geben. Seine eigenen Lügen zu glauben und für wahr zu erklären, ließ sich nicht so einfach rechtfertigen. Aber sollte er sich jetzt unnötigerweise noch mehr Angst einjagen? Bei diesen recht überschaubaren Auswahlmöglichkeiten fiel ihm seine Entscheidung nicht sonderlich schwer. Entschlossen und von seiner kleinen Ausflucht überzeugt, schloss er die Tür wieder. Mit schnellen Schritten ging er in sein Zimmer und nahm, ohne auf das Display zu schauen, den Anruf an.

      „Hey Trae, wieso hast du so lange gebraucht? Du glaubst nicht, wie ich mich grade erschrocken habe“, begrüßte er ihn.

      „Gefällt es dir?“, antwortete eine kindliche Stimme am anderen Ende.

      „Wie bitte? Wer ist da?“, fragte er stutzig.

      „Ich hab mein Zimmer aufgeräumt, damit Mommy nicht wieder so schimpft. Gefällt es dir, David?“, entgegnete die Stimme, ohne genau auf seine Frage einzugehen.

      „Wer zum Teufel ist da?“, fragte David ein weiteres Mal, obwohl er glaubte, die Antwort darauf schon längst zu kennen.

      „Tut mir leid, dass ich eben so einen Krach gemacht habe, aber die Schranktür ist aus den Angeln gefallen, als ich meine Kuscheltiere darin versteckt habe“, fuhr die Person weiter fort, ohne auf Davids Frage einzugehen. Erschrocken drehte David sich um. Seine Augen fixierten seine weiß angestrichene Zimmertür.

      „Bobby? Bist du es?“ Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. „Ich hab dich vermisst, David. Hast du mich auch vermisst?“

      „Ja Bobby, das habe ich. Das habe ich so sehr. Wo bist du?“, fragte er weiter. Doch die Tatsache, dass es Bobby war, jagte ihm nur noch größere Angst ein. Seine Stimme klang wie damals, als er noch ein Junge im Alter von elf Jahren war. Doch das war nicht möglich. Inzwischen müsste seine Stimme erheblich tiefer und reifer geworden sein. Außerdem war da noch die schlichte Tatsache, dass Bobby vor Jahren verschwunden war. Sein Kopf ratterte und suchte angestrengt nach einer logischen Erklärung, fand aber keine. Er hörte, wie sich eine Tür im Haus öffnete. Welche es war, konnte er nicht zuordnen, jedoch konnte er fast sicher sagen, dass es eine im Untergeschoss sein musste.

      „Ich hatte Hunger“, antwortete Bobby zaghaft. Ein Topf fiel hörbar unter ihm in der Küche zu Boden.

      „Bobby. Wo bist du grade?“, fragte David ein letztes Mal ernst und versuchte, seine Angst zu unterdrücken, damit man nicht direkt hören konnte.

      „Es ist einsam hier drüben, David. Ich möchte zu dir rüberkommen.“

      „Was willst du, Bobby?“

      Hastig drehte er den Schlüssel im Schloss seiner Tür herum. Dann eilte er zu seinem Fenster und verschloss auch dieses eilig.

      „Ich möchte zu dir, David. Mach mir bitte auf“, bat ihn die kindliche Stimme seines Bruders. Bevor er etwas erwidern konnte, begann etwas, an dem Griff seiner Tür zu rütteln. Sie wackelte stark, aber hielt trotzdem weiterhin Stand.

      „Bitte lass mich rein“, wiederholte Bobby freundlich und dennoch wütend zugleich.

      „Oh mein Gott“, krächzte David. Seine Panik hatte ihm die Stimme zum größten Teil genommen und ihn unfähig gemacht, einen verständlichen Laut von sich zu geben.

      „Ich habe Angst alleine, David, bitte mach mir auf“, rief sein kleiner Bruder ein weiteres Mal aus dem Handy in Davids Hand.

      Die Tür vibrierte förmlich unter der Gewalt, mit der jemand versuchte, sie aufzubrechen. Ohne einen Ton von sich zu geben, sank David auf sein Bett zurück und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Sein Handy fiel ihm aus der Hand und landete auf dem Fußboden. Schwer atmend und leicht schluchzend, starrte er die immer noch wackelnde Tür an. Ein letztes Mal hörte er leise aus den Lautsprechern seines Handys die Aufforderung, die Tür aufzumachen. Mit einem Male verstummte alles. Die Tür war wieder so fest in ihrem Rahmen wie zuvor, und aus seinem Smartphone tutete das Freizeichen.

      Einen Moment lang schien die Welt sich so weiterzudrehen wie sie es immer tat. Ohne gruselige Anrufe von verschwundenen Geschwistern, die mitten in der Nacht versuchten, in das Zimmer einzudringen. Panisch sah er sich in seinem Zimmer um. Es war genauso leer und unaufgeräumt wie immer. Nach ein paar tiefen Atemzügen begann sein Puls, sich wieder in den Normalbereich zu bewegen. Ein Alptraum, mehr nicht, sagte er sich überzeugt. Einige Momente verbrachte er noch sitzend in seinem Bett, ehe er sein Mobiltelefon vom Boden aufhob und es ausschaltete. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen natürlich. Verzweifelt und immer noch ein wenig ängstlich rollte er sich in seine Decke ein und legte sich auf die Seite. Müdigkeit überkam ihn auf der Stelle. Etwas raschelte hinter ihm. Als er sich halb umgedreht hatte, sah er genau in die Augen seines kleinen leichenblassen Bruder, der aufgerichtet im Bett saß. Das Blut gefror ihm in den Adern. So wie seine Augen, sah auch alles andere an ihm tot aus und stank geradezu nach Verwesung. Doch das Schlimmste waren seine kristallklaren Augen, die ihm direkt in die Seele zu schauen schienen. Das Mondlicht reflektierte so stark in ihnen, dass sie weiß aufblitzten. Grinsend sah er seinen, vor Angst erstarrten, großen Bruder an. Zwischen seinen Lippen schimmerten weiße Zähne hindurch. Viel glänzender und reiner, als man sich die Zähne eines Kindes eigentlich vorstellte.

      „Freust du dich, dass ich wieder da bin?“, fragte Bobby ihn freudestrahlend und offenbarte die ganze Pracht seines Gebisses. Sein Grinsen hatte bei weitem nichts freundliches mehr an sich, sondern hatte das Ausmaß einer Horrorfratze, wie man sie sonst nur in Filmen sah. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Ding auf seinem Bett an. Es trug dieselben Sachen wie sein Bruder. Es sprach und bewegte sich sogar wie er. Es war wie eine perfekte Kopie des elfjährigen Bobby Williams, nur eben etwas toter.

      „Du freust dich nicht, oder?“

      Die Mimik auf dem Gesicht des toten Bobby änderte sich schlagartig. Das diabolische Grinsen war verschwunden und hatte einem enttäuschten und traurigen Ausdruck Platz gemacht. David konnte nicht antworten. Der bloße Anblick der Gestalt, die auf seinem Bett wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn seither ununterbrochen beäugte, schnürte ihm seine Kehle zu und machte jeden Versuch, etwas zu sagen, zunichte.

      „Freust du dich denn gar nicht, großer Bruder?“, fragte der kleine Junge traurig in Erwartung einer Reaktion. Doch die gab es nicht. Der erschrockene und ängstliche Gesichtsausdruck hatte sich auf Davids Gesicht eingebrannt wie ein Brandzeichen auf dem Schenkel eines Pferdes. Seine Lippen klebten aneinander, als hätte man sie mit festem Garn zugenäht und hinderten ihn daran zu schreien.

      „Liebst du mich nicht mehr?“

      Mehr als ein leichtes Kopfschütteln brachte David nicht zustande. Bobbys Hände schossen hervor und griffen nach den Schultern seines großen Bruders.

      „Liebst du mich nicht mehr?!“, schrie er ihn an und vergrub seine Finger immer tiefer in seine Schultern. Ein stummer Schrei