Noah sah mich fragend an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Er ist einfach zu perfekt, um ihn zu mögen.«
»Aha!«, machte Noah, »ich gehe dann schon mal.«
Sobald er verschwunden war, wandte sich der Junge wieder an mich. »Fangen wir doch mit etwas Einfachem an«, meinte er. »Wenn du mir deinen Namen sagst, sage ich dir meinen.«
»Es wird dir zwar nichts nützen, aber einverstanden. Ich heiße Christina.«
Der Junge betrachtete mich einen Moment aufmerksam und nickte. »Passt zu dir. Macht es dir was aus, wenn ich dich trotzdem Tina nenne? Ich fasse mich gerne kurz.« Bevor ich antworten konnte, sprach er bereits weiter: »Ich nenne mich X.«
»Ex?«, fragte ich verwirrt.
»Genau. X, nur auf Englisch ausgesprochen. Hier, deine Suppe ist fertig.« Er reichte mir einen Teller. »Macht drei Euro fünfzig, bitte.«
Ich kramte nach dem Geld und reichte es ihm über den Tresen. »X passt überhaupt nicht zu dir. Ich hätte auf Rafael oder so was getippt. Ich würde meine Eltern verklagen, wenn sie mich nur mit einem einzigen Buchstaben bedacht hätten!« Wieder diese für mich ungewöhnliche Offenheit. Keine Ahnung, was heute mit mir los war, aber der Wächterin gefiel es definitiv. Und wenn ich ganz ehrlich war, mir auch.
Xs Gesicht verdüsterte sich einen Moment, dann sagte er: »Haben sie nicht, aber X gefällt mir besser als mein Geburtsname!«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Es ist dein Name. Vielleicht erfahre ich ja irgendwann mal, wie du dazu gekommen bist.«
X sah mich an und nickte langsam. »Ja«, sagte er, »vielleicht.«
Kapitel 4• Wieder im Buchladen
Als ich zurück zum Tisch kam, hatte Noah seinen Hamburger schon verschlungen und machte sich nun über seine Pommes her.
»Scheint gut gewesen zu sein«, bemerkte ich grinsend.
»Unglaublich«, erwiderte Noah und schob sich noch eine Pommes in den Mund. »Als ich den Hamburger bestellt habe, hat mich der Mädchenschwarm am Tresen ...«,
»X«, sagte ich automatisch und stellte mein Tablett auf den Tisch.
Noah warf mir einen überraschten Blick zu, fuhr aber ohne Kommentar fort: »X hat mich gefragt, ob ich den Hamburger lieber mit Lammfleisch hätte, und das war die beste Idee des Tages.«
Ich probierte die Suppe und war überrascht. Sie schmeckte tatsächlich wie die meiner Großmutter. Das konnte nur bedeuten, dass ihr Rezept doch nicht so geheim und außergewöhnlich war, wie sie selbst immer behauptete. Ich grinste. Beim nächsten Familientreffen, wenn sie mich wieder mit irgendwas aufzog, würde ich das mal erwähnen.
»Und, wie ist die Suppe?«, fragte Noah.
»Wie die meiner Großmutter.« Ich nahm noch einen Löffel.
»Dann genieße sie, ich muss los«, sagte Noah und erhob sich. »Wir sehen uns später.« Er nahm seinen Teller, stellte ihn auf einen eleganten Geschirrwagen, winkte mir noch einmal zu und ging zum Ausgang.
Als ich fertig gegessen hatte, tat ich es ihm gleich und war schon auf dem Weg zur Tür, als ich ein fröhliches: »Ciao Tina!«, vernahm. Ich drehte mich um und sah etwa dreißig Augenpaare auf mich gerichtet. Einige verdutzt, die meisten aber empört und neidisch. Ich nickte in Richtung Tresen: »X!«
Dann verließ ich das Restaurant.
>Cooler Abgang!<, sagte die Wächterin zufrieden.
Dieser Tag hatte das Zeug, der bisher beste meines Lebens zu werden.
Wenig später saß ich im Bus und fuhr in die Innenstadt. Es war schon nach 14:00 Uhr und Jo würde mit Sicherheit sauer sein, dass ich so spät kam, aber wie hatte Noah so schön gesagt: Damit musste er leben. Als ich endlich am Jägerzaun stand, der den Buchladen und den dazu gehörenden Garten umgab, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Ich konnte es plötzlich gar nicht mehr erwarten, Mathilde und den Raum der Bücher wiederzusehen. Auch die Wächterin freute sich. Sie summte vor sich hin, was irritierend gewesen wäre, wenn es sich nicht um eins meiner Lieblingslieder gehandelt hätte. Ich öffnete die Gartenpforte, die noch immer leise quietschte, und schritt über den Kiesweg auf das alte Einfamilienhaus, mit dem merkwürdigen Türmchen zu, in dem sich der Buchladen befand. Oder vielleicht sollte ich sagen, in dem er sich versteckte. Das Äußere des Ladens wirkte eher abweisend und im Inneren war es staubig und leicht chaotisch. Ich war gespannt, was Jos Mutter dazu gesagt hatte, denn all das passte nicht wirklich in das wohlgeordnete Leben der Dräxlers.
Ich warf einen Blick auf den nun kahlen Apfelbaum, der bei meinem ersten Besuch voller Früchte gehangen hatte, und wäre fast ausgerutscht, da mir dadurch eine gefrorene Stelle auf dem Weg entgangen war. Es war eindeutig Winter. Wie zur Bestätigung fuhr ein eiskalter Windstoß durch die Tannen, die den Buchladen flankierten. Sie rauschten leise. Die Tannen schirmten den Buchladen zusätzlich vor den Augen ungebetener Gäste ab, und das waren alle, die nicht eingeladen worden waren, ihn zu betreten. Ich zog schaudernd den Reißverschluss meiner Winterjacke höher. Ich erreichte das Haus und sah ins Schaufenster, das die gesamte Vorderfront einnahm. Die verschnörkelte Schrift, die besagte <Mathildes Buchladen - Vergangenes und Modernes>, war noch an ihrem Platz, doch im Schaufenster selbst hatte jemand Ordnung geschaffen. Es war staubfrei, die dort ausgestellten Bücher wurden ordentlich präsentiert und die Spielzeuge waren verschwunden. Wahrscheinlich hatte Mathilde vermeiden wollen, dass Frau Dräxler schon vor Betreten des Ladens auf dem Absatz kehrtmachte und Jo wieder mitnahm.
Ich ging zur Eingangstür mit dem Glaseinsatz, der durch ein altmodisches Eisengitter geschützt wurde, und drückte auf die Klinke. Die Tür schwang nach innen auf und wie immer bimmelte das Glöckchen, das darüber angebracht war. Im Laden selbst hatte sich nichts verändert. Es war dämmerig, leise Musik erklang aus unsichtbaren Lautsprechern und es roch nach Staub, Leder, alten Büchern und noch etwas anderem, das ich immer noch nicht identifiziert hatte. Hinter dem Holztresen, rechts neben dem Eingang, auf dem sich außer einer altmodischen schwarzen Kasse auch unzählige Bücher und ein kleines Töpfchen mit Blumen, diesmal Astern, befanden, saß normalerweise Mathilde mit einem Buch in der Hand. Heute jedoch war der Platz leer.
Das war mehr als ungewöhnlich. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich wollte gerade mein Druidenmesser aus der Innentasche der Winterjacke ziehen, als Mathildes Stimme aus der Tiefe des Buchladens erklang: »Hallo Christina, wir sind im Sachbuchbereich, vierte Regalreihe rechts, ganz hinten.« Ich atmete erleichtert auf und machte mich auf den Weg. Inzwischen fragte ich mich nicht mehr, wie Mathilde wissen konnte, dass ich es war, die den Laden betreten hatte. Sie war ein magisches Wesen. Was genau sie war, hatte sie uns allerdings noch nicht erklärt, aber ich war mir sicher, dass sie es uns zu gegebener Zeit sagen oder herausfinden lassen würde. Der Moment war wohl einfach noch nicht gekommen. Der Buchladen war gefüllt mit Reihen von Regalen aus dunklem Holz, welche sich in der Tiefe verloren und die Gänge dazwischen wurden von runden Deckenlampen nur spärlich beleuchtet. Dafür gab es an jedem der Regale mehrere Leselampen, die man einschalten konnte, um sich die Bücher genauer zu betrachten. Auf dem Boden vor den Regalen lagen hin und wieder Bücherstapel. Ja, es war eindeutig, dass Mathilde Hilfe benötigte. Oder zumindest wollte sie den Eindruck erwecken. Ich wich einem Stapel mit dicken, alten Einbänden aus, den ich im Dämmerlicht fast nicht gesehen hatte und grinste.
Einmal mehr erinnerte mich das Innere des Ladens an den Bauch eines alten Holzschiffes, doch inzwischen fand ich es nicht mehr befremdlich, sondern eher heimelig. Ich hatte Jo und Mathilde schnell erreicht und bevor die Bibliothekarin wusste, wie ihr geschah, fiel ich ihr um den Hals. Mathilde war genauso groß wie ich, was bedeutete, dass ich in der Zeit, in der wir uns nicht gesehen