Meine Mutter ließ sich nicht provozieren. »Ich freue mich, dass ihr mit eurer Freizeit etwas Vernünftiges anfangen wollt, und früher hast du Tennis geliebt!«
»Früher«, sagte ich betont deutlich, »habe ich mit meiner besten Freundin gespielt, nicht mit meiner ärgsten Feindin und deren Anhängerinnen.« Dann biss ich in die Pizza, um jegliche weitere Unterhaltung zu beenden. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass meine Mutter etwas erwidern wollte, es aber zusammen mit einem großen Bissen Pizza hinunterschluckte.
Als ich am nächsten Morgen verfroren den Pausenhof betrat, entdeckte ich Jo und Noah bei „unserer“ Bank. Sie stand in der Nähe einer alten Eiche, etwas abseits vom Trubel auf dem Schulhof. Bereits am ersten Schultag hatten Noah und ich hier unsere Klassenschläger Michel und Klaus daran gehindert, Jo zu zwingen, Hundekot zu essen. Hier hatte unsere Freundschaft ihren Anfang genommen. Jetzt schwiegen sich Jo und Noah allerdings an. Wahrscheinlich hatte Noah Jo berichtet, dass er heute Nachmittag erst zum Fußballtraining gehen würde, bevor er in den Buchladen kam und Jo hatte darauf reagiert, wie von mir erwartet.
Ich war noch nicht richtig bei den beiden angekommen, da legte Jo auch schon los. Kleine weiße Atemwölkchen entwichen seinem Mund, während er hastig redete, wie immer, wenn er aufgeregt war: »Du hattest recht, Vulkanchen. Mr „ich will nicht zum Kreis der populären Schüler gehören, tue aber was ich kann, um aufzufallen“ hat heute Nachmittag schon etwas Besseres vor, als mit uns Dämonen aufzuspüren!«
»Also erstens habe ich nicht gesagt, dass Noah vielleicht etwas Besseres, sondern, dass er vielleicht etwas Anderes vorhat«, stellte ich ruhig klar, grub meine kalten Hände tiefer in die Taschen meiner Winterjacke und fuhr fort: »Und zweitens hat er mir das bereits gestern am Telefon gesagt. Wenn wir mal davon ausgehen, dass ich im Tennisteam aufgenommen werde, was mehr als wahrscheinlich ist, und du bis Mitte des nächsten Jahres zweimal wöchentlich bei Mathilde Bücher sortierst, dann ist die Frage nicht, wer was macht, sondern wie wir es hinkriegen, dass wir alle unsere Aktivitäten auf die gleichen Tage legen, damit wir genug Zeit für den Rest haben!«
Jo sah mich einen Augenblick an und sagte dann griesgrämig: »Super, ihr amüsiert euch und ich langweile mich bei Mathilde zu Tode.«
»Ach komm, Jo. Ich werde mich bestimmt großartig mit Sylvia und dem Dreigestirn amüsieren und überhaupt sprechen wir hier von Mathilde. Ich glaube nicht, dass du dazu kommst, dich zu langweilen! Wenn du zum Ordnen und Katalogisieren zu ihr bestellt wurdest, dann wird sie darauf achten, dass du dies auch tust. Wahrscheinlich in der Sektion, die Informationen enthält, die wir in naher Zukunft brauchen. Außerdem kribbelt es dir doch schon in den Fingern, wenn du an all die Bücher denkst, die du lesen kannst, während du im Laden bist!« Ich grinste ihn an und warf einen schnellen Blick zu Noah, der mir lächelnd zunickte. Ohne seine Eingebung gestern am Telefon hätte ich nicht so gut auf Jos Schmollen reagieren können.
Jo versuchte verzweifelt, seine finstere Miene beizubehalten, doch dann verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln.
»OK«, sagte er, »solange wir uns überhaupt noch sehen.«
»Selbstverständlich!« Noah knuffte ihn leicht. »Ich ziehe nicht auf den Mars, sondern spiele Fußball. Und unsere Freundschaft bedeutet mir viel zu viel, um sie zu zerstören.«
»Mir auch.« Jo sah Noah an und fügte grinsend hinzu: »Einer von uns muss ja als Dämonenfutter fungieren, während Christina und ich die Welt retten.«
»Das nächste Mal lässt du dich vom Dämon beißen und knallst anschließend gegen den Grabstein«, sagte Noah entschieden. »Dein Schädel ist dicker als meiner!«
»Falls wir für das nächste Mal gewappnet sein wollen, sollten wir uns jetzt auf den Weg machen. Es klingelt schon wieder und wenn wir Nachsitzen müssen, reagieren unsere Eltern bestimmt nicht geschmeidig«, mischte ich mich ein und hob Jos Rucksack vom Boden auf, damit dieser die Hände frei hatte und mit Hilfe beider Krücken aufstehen konnte.
»Howgh, die Wächterin hat gesprochen«, sagte er und erhob sich ächzend. »Es wird Zeit, dass wieder was passiert, ich bin total eingerostet«, stellte er fest und setzte sich in Bewegung.
Als wir das Klassenzimmer betraten, wusste ich sofort, dass etwas geschehen war. Die Stimmung im Raum war anders und es herrschte ein höherer Lärmpegel als sonst. Während ich mich setzte und die Tasche über meine Stuhllehne hängte, sah ich mich um und mein Blick blieb an dem leeren Platz schräg vor mir hängen. Sylvia von Kastanienburg fehlte. Ich sah hinüber zu ihrem Hofstaat. Ramona, Michelle und Janine hatten wie gewöhnlich die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten, trotzdem wirkten sie ohne Sylvia irgendwie verlassen. Wie hatte Jo sie genannt? Planeten, die um eine Sonne kreisen, die sich Sylvia nennt? Nun fehlte die Sonne plötzlich, was die Schwerkraft der drei ziemlich durcheinanderzubringen schien. Mit einem Mal wirkten sie wesentlich weniger einschüchternd.
»Irgendwie komisch, die drei so zu sehen, was?«, fragte Jo. »Sie kommen einem fast hilflos vor. Man könnte glatt Mitleid mit ihnen haben.«
Ich lächelte schief. »Wir sollten herausfinden, was mit Sylvia geschehen ist. Die Wächterin liegt auf der Lauer!«
Jo sah mich überrascht an, dann beugte er sich vor und rief den dreien zu: »Hey, Dreigestirn, was ist mit eurer Sonne los? Ist sie vom Himmel gefallen und verglüht, oder hat sie etwa eine Grippe, wie sie der Rest von uns Untermenschen ab und zu bekommt?«
»Keine Ahnung wie das heißt, was du ab und zu bekommst, und noch weniger das, was du ständig hast, aber bevor du über andere herziehst, solltest du über die Fakten informiert sein!« Ramona fauchte es fast, während sie sich zu uns umdrehte.
»Hört, hört«, sagte Jo, »das ist ja mal was ganz Neues!« Dann fügte er mit einer angedeuteten Verbeugung in Ramonas Richtung hinzu: »Erleuchte mich, was ist geschehen? Hat sich ihre Hoheit einen Nagel abgebrochen, als sie versucht hat, sich die Schuhe alleine zuzubinden?«
Aus dem hinteren Teil des Klassenzimmers ertönte ein Kichern. Mein Blick huschte in die Richtung, aus der es gekommen war, und blieb an einem aschblonden Mädchen hängen, das mir verschwörerisch zuzwinkerte. Sie war mir bisher kaum aufgefallen, ich erinnerte mich nicht einmal an ihren Namen. Das war es, was anders war! Die Schüler, die sich ansonsten unsichtbar machten, um nicht die Aufmerksamkeit von Sylvias spitzer Zunge auf sich zu lenken, beteiligten sich heute am allgemeinen Getuschel. Sylvias Abwesenheit machte sie mutig.
»Sehr witzig, Hinkebein!«, sagte Ramona und ich wandte mich wieder zu Jo und dem Dreigestirn. »Wenn du es genau wissen willst«, erklärte Ramona von oben herab, »Sylvia ist im Krankenhaus. Sie ist gestern Abend die Treppe hinuntergestürzt und hat sich dabei das Bein gleich mehrfach gebrochen. Der Bruch ist so kompliziert, dass mein Vater sie gestern Nacht noch operiert hat. Aber mach ruhig weiter deine Witze.« Beim letzten Satz bebte ihre Stimme vor Empörung.
Jo nickte ernst. »Ich verspreche, ich tue mein Möglichstes, um meinen Humor nicht zu verlieren. Und glaube mir, das ist nicht einfach mit Klassenkameraden wie euch.«
»In welchem Krankenhaus liegt sie denn?«, erkundigte ich mich und wurde rot.
Es war Michelle, die an Ramonas Stelle antwortete: »Das geht dich gar nichts an, Brillenschlange! Du bist die Letzte, die Sylvia sehen will. Sie würde eher sterben, als sich mit jemandem wie dir abzugeben. Du bist so was von unter ihrem Niveau!«
Ich spürte, wie die Wächterin in mir vor Wut kochte.
>Wenn du jetzt nichts sagst, dann kannst du das nächste dunkle Wesen ohne meine Hilfe erledigen<, schimpfte sie, doch obwohl sie recht hatte, konnte ich nicht aus meiner Haut.
Ich tat so, als würde ich etwas aus meiner Tasche nehmen, und überlegte mir eine