Eine ganze Weile sagte niemand etwas, dann flüsterte Sylvia: »Es war kein Kobold, es war ein Geist. Eine Frau.«
»Eine Frau?«, fragte Jo verblüfft, fing sich aber sofort wieder. »Warum überrascht mich das eigentlich? Schließlich wissen wir alle, wie gemein Frauen schon in jungen Jahren sein können.« Er schenkte Sylvia ein strahlendes Lächeln, was diese mit einem bitterbösen Blick quittierte.
»Erzähl uns bitte mehr von dem Geist«, sagte ich schnell.
Sylvia holte tief Luft und berichtete: »Ich war auf dem Weg zum Tennistraining und wollte gerade die Treppe unserer Eingangshalle runter, als plötzlich diese Frau auftauchte. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid und ich hätte sie wahrscheinlich für eine neue Angestellte gehalten, wenn das Kleid nicht lang und etwas altmodisch und ihre schwarzen, lockigen Haare offen gewesen wären. Sie stellte sich mir in den Weg und zischte: „Euer Hochmut und eure Habgier haben mein Leben zerstört, doch ich will nicht eher ruhen, bis der letzte Schönbrunn zerstört und vernichtet ist!“ Ich erinnere mich so genau an die Worte, weil ich ihr gerade klarmachen wollte, dass ich keine Schönbrunn bin, als sie sich vor meinen Augen verwandelte. Ihr Gesicht wurde zum Totenschädel, ihr Körper zu einem Skelett, das Kleid war plötzlich zerrissen und sie versuchte, nach mir zu greifen.« Hier machte Sylvia eine kurze Pause und krallte die Hände in ihre Bettdecke. Sie räusperte sich und sprach dann weiter: »Ich wich ihr aus, verpasste die erste Stufe, fiel die Treppe hinunter und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich hier im Krankenhaus. Wie ihr euch denken könnt, habe ich niemandem davon erzählt und ich werde jedes Wort bestreiten, solltet ihr die Geschichte verbreiten wollen.«
Ich ignorierte den letzten Teil des Satzes und fragte: »Kam dir der Geist bekannt vor? Hast du ihn vielleicht schon mal auf alten Familienfotos gesehen?«
»Was willst du denn damit sagen?«, erkundigte sich Sylvia beleidigt. »Dass es in unserer Familie Verrückte gegeben hat, die jetzt als Geister umgehen und versuchen, andere zu ermorden?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht und genau das ist das Problem. Ich muss so viel wie möglich über den Geist herausfinden. Das macht es einfacher, ihn wieder loszuwerden. Wenn du ihn nicht gerufen hast ...« Ich machte eine Pause und sah Sylvia an, die entrüstet den Kopf schüttelte. »Dann wird es wohl deine Urgroßmutter gewesen sein. Sie hat gerne mit Magie herumgespielt. Bist du sicher, dass der Geist, nennen wir ihn einfach die „wütende Dame“, bis wir den richtigen Namen wissen, nicht doch noch irgendwas gesagt hat, das uns weiterhelfen könnte?«
Sylvia sah mich mit offenem Mund an. »Cecile Schönbrunn hat den Geist gerufen? Natürlich. Kannst du mir mal verraten, warum sie das gemacht haben soll?«
»Glaub es mir einfach«, entgegnete ich. »Was ist nun, kannst du dich noch an etwas anderes erinnern?«
Sylvia schien etwas erwidern zu wollen, schloss aber nach einem Blick auf mein Gesicht den Mund. Sie wirkte irritiert. Schließlich sagte sie: »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, als ich die Treppe runter gefallen bin, habe ich noch gehört, wie sie ein Amulett erwähnte, das niemand je finden würde.«
Ich nickte. »Das könnte wichtig sein«, sagte ich anerkennend und Sylvia schenkte mir das erste aufrichtige Lächeln, seit wir uns kannten. »Du musst uns gleich am Tag deiner Entlassung zu dir nach Hause einladen«, fuhr ich fort. Sofort erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich tat, als würde ich es nicht bemerken, und sprach weiter: »Du solltest der „wütenden Dame“ keine zweite Chance geben und auch deinen Vater warnen. Er muss vorsichtig sein. Lass dir was einfallen.«
Sylvia verzog das Gesicht. »Euch zu mir nach Hause einladen? Das kommt gar nicht in Frage. Was sollen denn meine Freunde denken?«
Ich ignorierte sie und kramte in meiner Schultasche nach einem Stück Papier. Schließlich riss ich ein Stück von einem Block ab. »Hier, das sind meine Telefonnummern. Ruf mich an, sobald du weißt, wann du entlassen wirst. Wir kommen dann zu dir. Wenn es dir peinlich ist, kannst du deinem Vater ja sagen, dass wir dir die Hausaufgaben bringen«, fügte ich hinzu.
»Mein Vater ist nicht das Problem«, erwiderte Sylvia und nahm zögernd den Zettel entgegen. »Wie spät ist es?«, fragte sie unvermittelt.
»Kurz nach drei«, sagte Noah. »Warum?«
»Oh.« Sylvia wurde blass. »Ihr müsst verschwinden, schnell!«
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