In demselben Augenblicke fiel mir seine Vermutung ein, daß Liputin in unserer Angelegenheit nicht nur mehr wisse als wir, sondern auch noch etwas, was wir selbst nie erfahren würden.
»Erbarmen Sie sich, Stepan Trofimowitsch!« murmelte Liputin, wie wenn er schreckliche Furcht hätte. »Erbarmen Sie sich ...«
»Schweigen Sie, und fangen Sie an! Herr Kirillow, ich bitte Sie dringend, ebenfalls wieder umzukehren und dabei anwesend zu sein; dringend bitte ich Sie darum! Nehmen Sie Platz! Und Sie, Liputin, fangen Sie nun an: geradezu, einfach, ohne die geringsten Umschweife!«
»Hätte ich gewußt, daß Sie das so aufregen würde, dann hätte ich überhaupt nicht davon angefangen ... Und ich dachte, es wäre Ihnen schon alles durch Warwara Petrowna selbst bekannt!«
»Das haben Sie gar nicht gedacht! Fangen Sie an, fangen Sie an, sage ich Ihnen!«
»Tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich selbst hin; wie kann ich denn dasitzen, wenn Sie in solcher Aufregung vor mir hin und her laufen? Das kommt ja unpassend heraus.«
Stepan Trofimowitsch tat sich Gewalt an und ließ sich in eindrucksvoller Weise auf einen Lehnsessel nieder. Der Ingenieur starrte finster auf den Fußboden. Liputin betrachtete beide mit größtem Genusse.
»Ja, wie soll ich denn anfangen? Sie haben mich ganz wirr gemacht ...«
VI.
»Vorgestern schickte sie auf einmal ihren Diener zu mir: ›Die gnädige Frau‹, sagte er, ›läßt Sie morgen um zwölf Uhr zu sich bitten.‹ Können Sie sich das vorstellen? Ich ließ also gestern meine Arbeit liegen und klingelte bei ihr Punkt zwölf. Ich wurde geradeswegs in den Salon geführt; ich wartete etwa eine Minute, da kam sie; sie forderte mich auf, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst mir gegenüber. Da saß ich nun und traute meinen eigenen Sinnen nicht; Sie wissen selbst, wie sie mich immer behandelt hat! Sie begann geradezu und ohne Umschweife zu reden, wie das stets ihre Art ist. ›Sie erinnern sich‹, sagte sie, ›daß vor vier Jahren Nikolai Wsewolodowitsch, als er krank war, einige sonderbare Handlungen begangen hat, so daß die ganze Stadt erstaunt war, bis sich alles aufklärte. Eine dieser Handlungen betraf Sie persönlich. Nikolai Wsewolodowitsch hat Ihnen damals nach seiner Genesung auf meine Bitte einen Besuch gemacht. Es ist mir auch bekannt, daß er auch früher schon mehrere Male mit Ihnen gesprochen hatte. Sagen Sie offen und ehrlich, wie Sie ...‹ (hier stockte sie ein wenig) ›wie Sie damals Nikolai Wsewolodowitsch gefunden haben. Wie haben Sie überhaupt über ihn geurteilt? Welche Meinung haben Sie sich damals über ihn gebildet, und ... welche Meinung haben Sie jetzt von ihm?‹ Hier geriet sie nun gänzlich ins Stocken, so daß sie sogar eine ganze Minute wartete und auf einmal rot wurde. Ich bekam einen Schreck. Da fing sie wieder an, nicht etwa in gerührtem Tone (der würde ihr nicht stehen), sondern so recht nachdrücklich: ›Ich wünsche,‹ sagte sie, ›daß Sie mich genau und richtig verstehen. Ich habe Sie jetzt rufen lassen, weil ich Sie für einen scharfsichtigen, klugen Menschen halte, der fähig ist, richtig zu beobachten.‹ (Was sagen Sie zu diesen Komplimenten?) ›Sie werden gewiß verstehen,‹ sagte sie, ›daß es eine Mutter ist, die mit Ihnen spricht. Nikolai Wsewolodowitsch hat in seinem Leben mancherlei Unglück und viele Umwälzungen durchgemacht. Alles das‹, sagte sie, ›konnte auf seine Geistesverfassung einwirken. Selbstverständlich‹, sagte sie, ›rede ich nicht von Irrsinn; der ist völlig ausgeschlossen!‹ Das sprach sie in festem, stolzem Tone. ›Aber es konnte sich bei ihm etwas Seltsames, Besonderes herausbilden, eine gewisse Gedankenrichtung, eine Neigung zu einer besonderen Anschauungsweise.‹ (Alles dies sind ihre eigenen Worte, und ich bin erstaunt, Stepan Trofimowitsch, mit welcher Genauigkeit Warwara Petrowna eine Sache klarzumachen versteht; sie ist eine geistig hochbegabte Dame!) ›Wenigstens‹, sagte sie, ›habe ich selbst an ihm eine beständige Unruhe und eine Richtung auf besondere Neigungen wahrgenommen. Aber ich bin die Mutter, und Sie sind ein Fremder und deshalb bei Ihrem Verstande fähig, sich eine unabhängigere Meinung zu bilden. Ich bitte Sie nun inständig,‹ (so drückte sie sich aus: ›ich bitte Sie inständig‹), ›mir die ganze Wahrheit zu sagen, ohne alle Grimassen; und wenn Sie mir dabei noch das Versprechen geben, nachher nie zu vergessen, daß ich Ihnen das im Vertrauen gesagt habe, so können Sie darauf rechnen, daß ich stets durchaus bereit sein werde, mich Ihnen bei jeder möglichen Gelegenheit dankbar zu zeigen.‹ Nun, was sagen Sie dazu?«
»Sie ... Sie haben mich so überrascht ...« stammelte Stepan Trofimowitsch, »daß ich Ihnen nicht glauben ...«
»Nein, beachten Sie dies, beachten Sie dies,« fiel Liputin ein, wie wenn er nicht gehört hätte, was Stepan Trofimowitsch sagte: »wie groß mußte ihre Aufregung und Unruhe sein, wenn sie sich mit einer solchen Frage von ihrer Höhe herab an einen solchen Menschen, wie ich, wandte und sich obendrein dazu herabließ, mich selbst um Verschwiegenheit zu bitten! Wie ist das zu erklären? Haben Sie irgendwelche unerwarteten Nachrichten über Nikolai Wsewolodowitsch erhalten?«
»Ich weiß von keinen Nachrichten ... ich bin mehrere Tage nicht mit ihr zusammengekommen; aber ... aber ich muß Ihnen doch bemerken ...« stotterte Stepan Trofimowitsch, der offenbar Mühe hatte, seine Gedanken zu sammeln, »ich muß Ihnen doch bemerken, Liputin, daß, wenn Ihnen dies im Vertrauen mitgeteilt ist und Sie jetzt vor aller Ohren ...«
»Vollständig im Vertrauen! Und Gott strafe mich, wenn ich ... Aber wenn ich hier ... was ist denn da dabei? Sind wir denn etwa Fremde, auch Alexei Nilowitsch eingeschlossen?«
»Ich kann Ihre Anschauung nicht teilen; ohne Zweifel werden wir drei hier das Geheimnis bewahren; aber was Sie, den vierten, anlangt, so habe ich da meine Befürchtungen und traue Ihnen gar nicht.«
»Aber wie können Sie nur so etwas sagen? Ich habe doch von uns allen das größte Interesse daran, daß die Sache nicht auskommt, da mir für diesen Fall lebenslängliche Dankbarkeit versprochen ist! Aber ich wollte eigentlich bei eben diesem Anlaß auf eine sehr sonderbare Tatsache hinweisen, die übrigens sozusagen mehr psychologisch interessiert als einfach sonderbar ist. Gestern abend, wo ich noch unter der Einwirkung des Gespräches mit Warwara Petrowna stand (Sie können sich vorstellen, welchen Eindruck es auf mich gemacht hattet), wandte ich mich an Alexei Nilowitsch mit der beiläufigen Frage: ›Sie haben ja‹, sagte ich, ›sowohl im Auslande als auch schon früher in Petersburg Nikolai Wsewolodowitsch gekannt; wie urteilen Sie über ihn,‹ sagte ich, ›was Verstand und geistige Fähigkeiten anlangt?‹ Da antwortete er mir so lakonisch, wie das seine Art ist, er sei ein Mensch von feinem Verstande und gesunder Urteilskraft. ›Aber haben Sie nicht im Laufe der Jahre‹, sagte ich, ›eine gewisse Schieflenkung der Ideen oder eine besondere Verdrehung der Denktätigkeit oder sozusagen eine Art von geistiger Störung an ihm bemerkt?‹ Kurz, ich wiederholte Warwara Petrownas Frage. Stellen Sie sich vor: Alexei Nilowitsch wurde auf einmal nachdenklich und runzelte die Stirn geradeso wie jetzt und sagte: ›Ja, ich habe manchmal an ihm etwas Sonderbares bemerkt.‹ Und beachten Sie dabei noch dies: wenn selbst Alexei Nilowitsch an ihm etwas Sonderbares bemerken konnte, wie mag es dann erst in Wirklichkeit gewesen sein? Nicht wahr?«
»Ist das wahr?« wandte sich Stepan Trofimowitsch an Alexei Nilowitsch.
»Ich möchte nicht gern davon sprechen,« antwortete Alexei Nilowitsch; er hob plötzlich den Kopf in die Höhe, und seine Augen blitzten. »Ich bestreite Ihnen das Recht dazu, Liputin. Sie haben kein Recht, bei dieser Sache von mir zu reden. Ich habe überhaupt nicht meine ganze Meinung ausgesprochen. Wenn ich auch in Petersburg mit ihm bekannt war, so ist das doch schon lange her; und wenn ich ihn auch jetzt getroffen habe, so kenne ich Nikolai Stawrogin doch nur sehr wenig. Ich bitte Sie, mich aus dem Spiele zu lassen, und ... das alles sieht wie ein elender Klatsch aus.«
Liputin breitete die Arme auseinander, wie wenn er eine verfolgte Unschuld wäre.
»Ich ein Klatschbruder! Warum nicht auch ein Spion? Sie haben gut kritisieren, Alexei Nilowitsch, wenn Sie selbst sich von der ganzen Sache fernhalten. Aber Sie können gar nicht glauben, Stepan Trofimowitsch, was für