»Ich ... ich habe Peter schon lange nicht gesehen ... Sie sind im Auslande mit ihm zusammengetroffen?« fragte Stepan Trofimowitsch mühsam murmelnd den Gast.
»Sowohl hier als im Auslande.«
»Alexei Nilowitsch kommt soeben selbst nach vierjähriger Abwesenheit aus dem Auslande,« fügte Liputin hinzu. »Er ist gereist, um sich in seinem Spezialfache zu vervollkommnen, und jetzt zu uns gekommen, weil er begründete Hoffnung hat, eine Anstellung beim Bau unserer Eisenbahnbrücke zu erhalten; er wartet jetzt auf die Antwort. Er ist durch Peter Stepanowitsch mit den Drosdowschen Herrschaften, mit Lisaweta Nikolajewna, bekannt geworden.«
Der Ingenieur saß mit finsterem Gesichte da und hörte unbehaglich und ungeduldig zu. Es schien mir, daß er sich über etwas ärgerte.
»Der Herr ist auch mit Nikolai Wsewolodowitsch bekannt.«
»Sie kennen auch Nikolai Wsewolodowitsch?« erkundigte sich Stepan Trofimowitsch.
»Ja, den auch.«
»Ich ... ich habe Peter außerordentlich lange nicht gesehen und ... habe somit kaum ein Recht, mich seinen Vater zu nennen ... c'est le mot; ich ... wie haben Sie ihn verlassen?«
»Nichts Besonderes zu sagen darüber ... Er wird selbst herkommen,« erwiderte Herr Kirillow wieder eilig, um von der Frage loszukommen.
Er war entschieden ärgerlich.
»Er wird herkommen! Endlich werde ich ... Sehen Sie, ich habe Peter schon gar zu lange nicht gesehen!« versetzte Stepan Trofimowitsch, der an dieser Phrase hängen blieb. »Ich erwarte jetzt meinen armen Jungen, gegen den ... o gegen den ich mich so vergangen habe! Das heißt, ich will eigentlich sagen, daß ich, als ich ihn damals in Petersburg verließ ... kurz gesagt, ich hielt ihn für eine Null, quelque chose dans ce genre. Wissen Sie, der Junge war nervös, sehr empfindsam und ... ängstlich. Wenn er sich schlafen legte, machte er tiefe Verbeugungen vor dem Heiligenbilde und bekreuzte sein Kopfkissen, um nicht in der Nacht zu sterben ... je m'en souviens. Enfin, kein Gefühl für das Schöne, das heißt für etwas Höheres, Fundamentales, kein Keim einer künftigen Idee ... c'était comme un petit idiot. Übrigens bin ich, wie mir vorkommt, selbst verwirrt; entschuldigen Sie, ich ... Sie treffen mich heute ...«
»Sagen Sie das im Ernst, daß er sein Kopfkissen bekreuzte?« erkundigte sich der Ingenieur mit besonderer Neugier.
»Ja, das tat er ...«
»Ich tue so etwas nicht; fahren Sie fort!«
Stepan Trofimowitsch blickte Liputin fragend an und wandte sich dann wieder an den Fremden.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch; aber ich muß gestehen, ich bin jetzt ... nicht imstande ... Gestatten Sie aber die Frage: wo wohnen Sie?«
»In der BogojawlenskajaStraße, im Filippowschen Hause.«
»Ach, das ist dasselbe Haus, in dem Schatow wohnt,« bemerkte ich unwillkürlich.
»Ganz richtig, in demselben Hause,« rief Liputin; »nur wohnt Schatow oben, im Halbgeschoß, und dieser Herr hier hat sich unten einquartiert, beim Hauptmann Lebjadkin. Er kennt auch Schatow, und auch Schatows Frau kennt er. Er ist im Auslande mit ihr in sehr nahe Berührung gekommen.«
»Comment! Also wissen Sie wirklich etwas von der unglücklichen Ehe de ce pauvre ami und kennen diese Frau?« rief Stepan Trofimowitsch, auf einmal von seinem Gefühle fortgerissen. »Ich habe noch nie jemand getroffen, der diese Frau persönlich gekannt hätte; Sie sind der erste; und wenn nur ...«
»Was für dummes Zeug!« unterbrach ihn der Ingenieur, ganz rot vor Ärger. »Wie können Sie nur so etwas hinzuerfinden, Liputin! Ich habe Frau Schatowa gar nicht gesehen; nur einmal von weitem; aber näher kennen tue ich sie nicht ... Schatow kenne ich. Warum erfinden Sie denn allerlei hinzu?«
Er drehte sich mit kurzer Wendung auf dem Sofa herum und griff nach seiner Mütze; dann legte er sie wieder hin, nahm seine frühere Haltung wieder ein und richtete seine schwarzen Augen mit dem Ausdrucke zorniger Herausforderung auf Stepan Trofimowitsch. Ich vermochte mir eine so sonderbare Gereiztheit schlechterdings nicht zu erklären.
»Verzeihen Sie mir,« bemerkte Stepan Trofimowitsch im Tone eindringlicher Bitte; »ich begreife, daß das vielleicht eine sehr zarte Angelegenheit ist ...«
»Hier gibt es keine sehr zarte Angelegenheit; das ist ein ganz falscher Ausdruck; aber daß ich rief: ›Dummes Zeug!‹ das war nicht für Sie bestimmt, sondern für Liputin, weil er immer etwas hinzuerfindet. Schatow kenne ich; seine Frau aber kenne ich gar nicht ... gar nicht kenne ich sie!«
»Ich verstehe, ich verstehe, und wenn ich mir eine Frage erlaubte, so tat ich es nur deshalb, weil ich unsern armen Freund, notre irascible ami, liebe und mich immer für ihn interessiert habe ... Dieser Mensch hat meiner Ansicht nach seine früheren vielleicht zu jugendlichen, aber doch richtigen Anschauungen in gar zu schroffer Weise gewechselt. Und er erhebt jetzt gegen notre sainte Russie so vielerlei Anklagen, daß ich diesen Umschwung in seinem Organismus (anders kann ich es nicht bezeichnen) schon längst auf die starke Erschütterung seines Familienlebens und speziell auf seine unglückliche Ehe zurückführe. Ich, der ich mein armes Rußland studiert habe und kenne wie meine eigenen Finger und dem russischen Volke mein ganzes Leben geweiht habe, ich kann Ihnen versichern, daß er das russische Volk nicht kennt und überdies ...«
»Ich kenne das russische Volk auch gar nicht, und ... ich habe gar keine Zeit dazu, es zu studieren!« unterbrach ihn der Ingenieur von neuem und drehte sich wieder kurz auf dem Sofa herum.
Stepan Trofimowitsch war in der Mitte seiner Auseinandersetzung unterbrochen worden.
»Der Herr studiert es, er studiert es,« fiel Liputin ein; »er hat dieses Studium bereits begonnen und verfaßt eine interessante Abhandlung über die Ursachen der Zunahme der Selbstmorde in Rußland und überhaupt über die Ursachen, welche die Verbreitung des Selbstmordes in der menschlichen Gesellschaft befördern oder hemmen. Er ist zu staunenswerten Resultaten gelangt.«
Der Ingenieur geriet in eine schreckliche Erregung.
»Dazu haben Sie gar kein Recht,« murmelte er zornig; »ich schreibe gar keine Abhandlung. Solche Dummheiten mache ich nicht. Ich habe Sie vertraulich gefragt, nur ganz zufällig. Von einer Abhandlung ist hier überhaupt nicht die Rede; ich veröffentliche nichts, und Sie haben nicht das Recht ...«
Liputin hatte offenbar seine Freude daran.
»Pardon,« sagte er, »vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, wenn ich Ihre literarische Arbeit eine Abhandlung nannte. Der Herr sammelt nur Beobachtungen und läßt sich auf den eigentlichen Kern der Frage oder sozusagen auf ihre moralische Seite überhaupt nicht ein und lehnt sogar die Moralität selbst völlig ab und hält sich an den neuesten Grundsatz der allgemeinen Zerstörung zum Zwecke der Erreichung guter Endziele. Er fordert schon mehr als hundert Millionen Köpfe, um die gesunde Vernunft in Europa zur Herrschaft zu bringen, also weit mehr, als auf dem letzten Weltkongreß gefordert wurden. In diesem Gedanken geht Alexei Nilowitsch weiter als alle andern.«
Der Ingenieur hatte mit einem geringschätzigen, schwachen Lächeln zugehört. Etwa eine halbe Minute lang schwiegen alle.
»Das sind lauter Dummheiten, Liputin,« sagte schließlich Herr Kirillow mit einer gewissen Würde. »Wenn ich Ihnen zufällig einige Punkte gesagt habe und Sie sie aufgeschnappt haben, so ist das Ihre Sache. Aber Sie haben kein Recht, es zu erwähnen, weil ich nie mit jemandem darüber rede. Es widersteht mir, darüber zu reden ... Wenn es Überzeugungen gibt, so ist es für mich klar ... aber damit haben Sie dumm gehandelt. Ich stelle keine Erwägungen über jene Punkte an, wo schon alles erledigt ist. Ich kann die Erwägungen nicht leiden. Ich mag nie Erwägungen anstellen ...«
»Vielleicht tun Sie daran ganz recht,« konnte Stepan Trofimowitsch sich nicht enthalten zu bemerken.
»Ich entschuldige mich bei Ihnen; aber ich bin hier auf niemand zornig,« fuhr der Gast mit fieberhafter Geschwindigkeit fort. »Ich habe vier Jahre lang nur mit wenigen Menschen