Ein Arzt in einer kleinen Stadt. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754183816
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nur gering. Aber schon für mein früheres Geschäft sind einige chemische Kenntnisse ganz unerlässlich. Und welche seltsame Welt der Ursachen und Wirkungen eröffnet uns diese Wissenschaft, die außer dem so sehr ins praktische Leben eingreift. Hier zwischen meinen Tiegeln und Retorten möchte ich Ihnen auch einige Worte Goethes anführen, an die ich mich hier oft gemahnt fühle:

      Schau aller Wirkens Kräfte Samen,

      Und darf nicht mehr in Worten kramen.«

      »Nun, ich weiß nicht«, entgegnete Franke, »ob in den Retorten und Tiegeln des Chemikers wirklich die Ursachen, die Samen aller Kräfte entwickeln lassen. Ich für mein Teil sehe diese lang schnäbligen Gefäße, diese verdeckten Retorten nie an, ohne an die zerstörenden Kräfte denken zu müssen, die sich in ihnen entwickeln. Wie ein Kind vor Gespenstern fürchte ich mich bisweilen vor Giften und vor dem Brauen derselben. Die Geschichten der Tofana, der Brinvilliers stattet meine Phantasie stets aus mit solchen Kammern, wie diese hier, angefüllt mit mancherlei wunderlichen Gefäßen, in denen das Verderben zischt und sprudelt. Aber ich denke mir auch nur ein Weib in solchen Räumen walten, das Verbrechen des Giftmischens ist ganz eigentlich ein weibisches. Es ist verwandt mit dem Wirkungskreise des Weibes und wie uns die Hausmutter aus ihrer Küche liebend und sorgsam Leibes-Nahrung und Stärkung, ja so eigentlich das Leben gibt, so braut und kocht das entartete Weib den Tod in ihrer Höllenküche.«

      Der Senator hatte sich wieder gesetzt, als Franke zu sprechen begonnen. Seine Stirne war wieder bleich geworden, und als er die Augen erhob, lag in dem dunkeln, schweren Blick, der wie ein Wetterstrahl den jungen Arzt traf, abermal diese unverkennbare Erinnerung an seinen seltsamen Bekannten in Venedig.

      »Hören Sie auf, junger Mann«, sagte endlich Wallfeld – »hören Sie auf, Sie töten mich.«

      Er hielt die Hand vor die Augen und neigte einige Augenblicke den Kopf, wie keuchend unter einer schweren Last. Dann richtete er sich empor, und sprach gefasster:

      »Dies muss anders werden! – Schon mehrere Mal haben Sie die ewig schmerzende Stelle meines Familien-Unglücks auf raue Weise berührt. Es ist nicht Ihre Schuld! Wer eine Verwundung hat, muss die Nachbarn darauf aufmerksam machen, sonst berühren sie dieselbe ohne Ahndung, dass sie Pein erregen. – Ich glaubte, jeder Mensch kenne unser Schicksal, es war uns fast, als müsse es uns an der Stirne geschrieben sein. Sie aber sind fremd hier und haben uns wahrscheinlich nie nennen hören, bevor Sie unser Haus betreten?«

      Franke bejahte dies.

      »So muss ich es eigentlich in Ihre Willkür stellen, ob Sie künftig unter unserm Dache bleiben wollen oder nicht, und, so schwer es mir wird, Ihnen sagen, dass über dem Haupte meiner unglückseligen Stiefschwester seit Jahren der Verdacht des Giftmordes schwebt. Zwar haben die Gerichte nichts ermitteln können, sie ist aus dem Gefängnisse entlassen, aber mehrere schreckliche Tatsachen in ihrem Prozesse sind unaufgeklärt geblieben, und bis nicht ein Engel erscheint, der den Schleier von der Vergangenheit und – von den Gräbern nimmt, wird Jakobine nie ihr Angesicht mit Ehren unter Menschen zeigen können.«

      »Aber das ist ja ein grässliches Schicksal, werter Herr«, sagte Franke tief ergriffen von der einfachen Erzählung des Mannes, »und Ihre Schwester ist ein unsäglich unglückliches Wesen.«

      »Wohl ihr, wenn sie bloß unglücklich ist«, sagte der Senator, »Unglück ist besser als Schuld und ich als Bruder bin natürlich der Letzte an ihre Schuld zu glauben, ich –« er versank wieder in minutenlanges Träumen, richtete sich dann rasch empor und sagte:

      »Sie kennen uns nun und werden uns entweder verlassen oder schonen.«

      Franke reichte seinem Hauswirte die Hand und gab ihm mit Herzlichkeit die Versicherung, in jeder Beziehung Rücksicht auf seine eigentümliche Lage nehmen zu wollen.

      »Sie werden von uns sprechen hören, Herr Doktor, wenn Sie längere Zeit hier sind. Der böse Leumund ist unsterblich. Glauben Sie an das Unglück, so lange die Schuld nicht erwiesen ist und bitten Sie die Vorsehung, dass sie die Wahrheit ans Licht ziehe.«

      Franke ging in dem beschränkten Raume des gewölbten Laboratoriums auf und ab.

      »Wohl Ihnen, mein Herr, wenn Sie bei dem schweren Unglück, das Sie betroffen, an das Walten einer Vorsehung überhaupt noch glauben können. Ein einziger Blick in das klare, reine Gesicht Ihrer Schwester müsste, wie ich glaube, hinreichen, jeden Richter von ihrer Unschuld zu überzeugen, und doch haben Verhältnisse sich so gefügt, dass der eigene Bruder an die Möglichkeit einer Schuld bei ihr glaubt. Wenn wirklich eine weise liebevolle Hand die Schicksale der Menschen lenkte, wie wäre das möglich? Wie wäre es möglich, dass auf dem Haupte eines Menschen sich so viel Elend sammeln könne, wie auf dem, der –« er fühlte, dass er im Begriff gewesen, ein Geheimnis zu verraten und schwieg.

      Senator Wallfeld sah ihn an und sagte:

      »Sie waren in voriger Nacht bei dem Rate Baum?«

      »Sie sagten mir, dass Sie die Familie kennen«, entgegnete der Doktor.

      »Ja! Und seit vielen trüben Jahren. Frau Baum ist die einzige Freundin meiner unglücklichen Schwester, und ist ihr in allen ihren Leiden treu geblieben.«

      »Es scheint eine charaktervolle und tüchtige Frau zu sein.«

      »Eine Frau, wie es wenige auf Erden gibt«, sagte der Senator. »Ich erzählte Ihnen schon, dass wir Nachbarn waren. Sie und Jakobine sind zusammen aufgewachsen. Ihr Vater war wie der unsrige Tuchmacher. Das Haus hier nebenan gehörte ihrer Familie seit Jahrhunderten. In kleinen Städten, mein Herr Doktor, ist es etwas anderes, wie in der großen Welt, alles ist bei uns dauernder, stabiler, Wohnung und Hausrat vererbt sich vom Vater auf den Sohn. Bei uns besonders, wo das Handwerk gleichsam erblich war, blieb Jahrhunderte lang alles sich gleich in den Verhältnissen des Lebens, bis vor circa dreißig Jahren der Kommerzienrat Werl hierher zog mit vielem Gelde und englischen Maschinen. Der Handarbeiter kann, auch wenn er nicht ohne Kapital ist, neben der Maschinenkraft nicht aufkommen. – Mein Vater schloss bald sein Geschäft und lebte von seinen Renten. Der Vater Mariens arbeitete so lange mit seinen Spinnern und Webern fort, bis sein Bankerott ausbrach, ungefähr sechs Jahre nach der Gründung von Werls Fabrik. Sein Ruin war auch sein Tod, mitten in dem Elende und den Arbeiten, die ein Fallissement hervorbringt, rührte ihn der Schlag. Die Familie blieb ohne Stütze, ohne Rat, in völliger Armut zurück. Damals war Maria zwölf Jahre alt, mit zwanzig verheiratete sie sich, aber auch in ihrer Ehe blieb sie die Freundin meiner Schwester, die wenige Jahre älter ist als sie. Sie können daher wohl glauben, dass wir, Jakobine und ich, den Charakter unserer Jugendgespielin und Nachbarin kennen, sie ist eine außerordentliche Frau.«

      Ein Umstand in dieser kleinen Erzählung interessierte den Doktor besonders; der nämlich, dass auch Marie den Wechsel der Verhältnisse, von Reichtum oder mindestens von Wohlhabenheit zu Armut, kennengelernt hatte; zwar war er der Meinung, dass bei ihr der Abstand wohl nicht so groß und plötzlich als in seinem eigenen Leben gewesen sein dürfte, aber dennoch kam es ihm vor, als ob dadurch eine gewisse Verwandtschaft zwischen ihm und der Frau, die ihn so lebhaft beschäftigte, vermittelt würde. Das Laboratorium des Senators enthielt nichts, das besonderer Aufmerksamkeit wert gewesen wäre.

      An einem der Schränke sah man die Spur, dass er einst versiegelt gewesen sein müsse, und Franke setzte den kleinen roten Lackfleck in seinen Gedanken in Verbindung mit dem Familienunglück, von welchem er heute gehört. Welche Verwirrung, welcher Jammer mochte in diesem Hause geherrscht haben zur Zeit, als die Gerichte ihr Siegel auf jenes Schloss drückten.

      Fünftes Kapitel.

      Eine große Gesellschaft.

      Unter den Familien, denen Franke Visite gemacht, war natürlich auch die des Kommerzienrats Werl. Die Häuslichkeit hatte ihm eben nicht imponiert trotz dem Reichtum, der in allen Möbeln und Geräten sich mit großer Ostentation zeigte. Die Rätin Werl, eine dicke Frau, mit einem großen, hübsch gefärbten Gesicht, fast wie das Wachsbild vor dem Laden eines Friseurs, hatte ihm viel erzählt von ihren mancherlei